13. August 2010   Aktuell

Antrag des Kreisverbandes Helmstedt an den Landesausschuss

Im Februar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht über das Existenzminimum entschieden. Entschieden wurde aber nicht nur über die Verfassungswidrigkeit der Berechnung der Regelsätze des SGB II, sondern es wurde gleichfalls bestimmt, dass das Existenzminimum stets  zu gewährleisten sei und dass es vom Grundsatz her unverfügbar sei.

Im letzten Jahr wurden gemäß einer Kleinen Anfrage durch die Bundestagsfraktion Die LINKE  126.00 Menschen in diesem Land bis Null sanktioniert und diese Praxis – jetzt als verfassungswidrig bekannt – geht ungehemmt weiter, begleitet von beispiellosen Hetzkampagnen gegen Erwerbslose.
Die Bundesregierung denkt nicht im Traum daran, den implizierten Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes anzunehmen und die Sozialgesetze entsprechend anzupassen. Sie ignoriert das Urteil in diesem Punkt völlig.
Sanktionieren bis auf Null heißt beispielsweise bei vielen jugendlichen Betroffenen auch der reale Ausspruch einer Sippenstrafe, denn die Kosten der Unterkunft werden  meist von den Eltern mitgetragen werden müssen.
Dieses Gesetz ist unmenschlich, es ist menschenverachtend.

Aber es kann etwas dagegen getan werden! 
Dazu dient der Antrag

Antrag an Landesausschuss der Linken in Niedersachsen
Antragsteller: Vorstand des Kreisverbandes Helmstedt, vertreten durch die Delegierte zum Landesausschuß Roswitha Engelke

Antrag
I.    Der Landesausschuss stellt fest:
a.)    Der Landesausschuss DIE LINKE. Niedersachsen hält eine Sanktionierung von Erwerbslosen unter das Existenzminimum (Regelsatz plus Kosten der Unterkunft) für unsozial, moralisch verwerflich und gemäß Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 für verfassungswidrig.
b.)    Der Landesausschuss DIE LINKE. Niedersachsen mahnt die Bundesregierung aus CDU und FDP an, sich in Zukunft verfassungstreu zu verhalten und umgehend die Sozialgesetze so anzupassen, dass die Verfassungskonformität mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet ist.

Begründung:
Das unter Ia.) genannte Urteil geht in den ersten beiden Leitsätzen (von 4) auf das Grundrecht über ein Existenzminimum ein. In den weiteren Begründungen des Urteils wird explizit die gesellschaftliche Teilhabe in das Existenzminimum einbezogen. Weiterhin ist das Existenzminimum gemäß Randziffer 137 des Urteils stets zu gewährleisten. Insbesondere der Verweis auf das Wort „stets“ ist hier von erheblicher Relevanz, schließt es damit doch ausdrücklich auch ein zeitweises Unterschreiten wie durch Sanktionen aus.
Zur weiteren Begründung wird auf das Positionspapier von Wolfgang Neskovic im Anhang verwiesen, insbesondere auf Pkt. 4. Zitat:
4. Der Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist bedingungsfeindlich. Kürzungen und anderweitige mittelbare Sanktionen sind damit unvereinbar.            Zitatende

II.    Der Landesausschuss beauftragt den Landesverband mit folgenden Aufgaben:
a.)    Der Landesverband unterrichtet die Mitglieder der Linken Niedersachsen mittels des Kreisverteilers über diesen Beschluss.
b.)    Der Landesverband unterrichtet alle Bundestagsabgeordnete und Landtagsfraktionen über diesen Beschluss.
c.)    Der Landesverband DIE LINKE. Niedersachsen bittet die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE. um die Erarbeitung einer Gesetzesinitiative zur Sicherung des Existenzminimums, welches individuelle Freiheit und soziale Sicherheit für alle ermöglicht.

Anhang
Positionspapier
24.02.2010
Handreichung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.Februar 2010 -1 BvL 1/09-

Wolfgang Neskovic, Justitiar und rechtspolitischer Sprecher der Fraktion, Richter am Bundesgerichtshof a.D.

I. Feststellungen zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

1. Das soziale Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wurde erstmals ausdrücklich als solches anerkannt. Der über die Schutzpflicht des Staates hinausweisende subjektive Gehalt des Existenzminimums wurde gestärkt. Das Bundesverfassungsgericht setzt damit seine bisherige Rechtsprechung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konsequent fort. Darin liegt zugleich eine Ermutigung des Verfassungsgesetzgebers, weitere soziale Grundrechte anzuerkennen.

BVerfG: "Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (…). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind (vgl. BVerfGE 35, 202 ; 45, 376 ; 100, 271)."1

2. Der unmittelbar aus der Verfassung folgende Leistungsanspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum umfasst die physische Existenz und die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe.

BVerfG: „Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (…), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (…).“2

3. Der Leistungsanspruch ist begrenzt auf die Mindestsicherung des Existenzminimums.


BVerfG: „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind.“3

4. Der Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist bedingungsfeindlich. Kürzungen und anderweitige mittelbare Sanktionen sind damit unvereinbar.

BVerfG: Das Grundrecht ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden.“4 „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (…).“5

5. Der Umfang des Leistungsanspruchs richtet sich auch nach den individuellen Bedürfnissen und entwickelt sich mit geänderten sozialen Umständen. Daraus folgt zwingend ein verfassungsrechtlicher Anspruch für besondere Bedarfe des Individuums.

BVerfG: „Der Umfang dieses Anspruchs … hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt.“6

„Es ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zudem unvereinbar, dass im Sozialgesetzbuch Zweites Buch eine Regelung fehlt, die einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsieht. Ein solcher ist für denjenigen Bedarf erforderlich, der nicht schon von den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt wird, weil die Einkommens- und Verbrauchsstatistik, auf der die Regelleistung beruht, allein den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen widerspiegelt, nicht aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen.“7

6. Das Konstrukt der „Bedarfsgemeinschaft“ ist verfassungswidrig, soweit die hiervon erfassten Personen keine subjektiv durchsetzbaren (zivilrechtlichen) Ansprüche gegeneinander haben.

BVerfG: „Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“8.

7. Der Gesetzgeber muss die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst durch ein Parlamentsgesetz treffen. Er muss zur Festlegung des Leistungsumfangs ein transparentes und sachgerechtes Verfahren wählen.

BVerfG: „Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Dies findet auch in weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätzen seine Stütze. Schon aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen.“9 Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen. Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor.“10

8. Der Gesetzgeber entscheidet im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums über den Umfang der Leistung. Er hat dabei aus verfassungsrechtlicher Sicht zu gewährleisten, dass der Anspruch nicht evident unzureichend ist. Darüber hinaus muss das Verfahren zur Bestimmung der Höhe geeignet sein und folgerichtig angewendet werden. Er muss dauerhaft den Anspruch realitätsgerecht anpassen und zeitnahe Anpassung an geänderte gesellschaftliche Bedingungen vorsehen.

BVerfG: „Dieser (Gestaltungsspielraum) umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht.“11 Das dergestalt gefundene Ergebnis ist zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er …einen Festbetrag vorsieht.12 Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich - bezogen auf das Ergebnis - die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind.“13

9. Das Bundesverfassungsgericht negiert zusätzliche Maßstäbe für die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums aus den anderen Grundrechten. Daher ist der Leistungsanspruch höchstpersönlich. Der Leistungsanspruch besteht bspw. unabhängig vom Familienstand.

BVerfG: „Andere Grundrechte, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG, vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen. Entscheidend ist von Verfassungs wegen allein, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird; eines Rückgriffs auf weitere Grundrechte bedarf es hier nicht.“

I. Kritik am Urteil aus rechts- und sozialpolitischer Sicht

10. Die Prüfung, ob die Leistungen nach dem SGB II evident unzureichend sind, erfolgt sehr oberflächlich. Das physische Existenzminimum erfährt aufgrund des engeren Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers die volle Aufmerksamkeit des Bundesverfassungsgerichts. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf Ermöglichung des Mindestmaßes an gesellschaftlicher, politischer und kultureller Teilhabe wird demgegenüber – ohne nachvollziehbare Begründung - vernachlässigt. Das Bundesverfassungsgericht reißt den einheitlichen verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch – wiederum ohne Begründung- auseinander. Warum der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bezüglich der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Teilhabe weiter sein soll, erschließt sich nicht.


11. Warum sich das Bundesverfassungsgericht allein auf die Untersuchungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge beruft, wird auch nicht begründet. Die Frage, ob die SGB-II- Empfänger/innen tatsächlich („realitätsgerecht“) von diesem Geld leben können, oder auf zusätzliche „freiwillige“ Hilfe von Dritten (bspw. Suppenküchen etc.) angewiesen sind, wird nicht geprüft.

12. Das Bundesverfassungsgericht erkennt einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, wie er das Existenzminimum sichert, an. Geld-, Sach- und Dienstleistungen seien möglich. Dies wird nicht begründet. Diese Vorgabe ist bedenklich. Schließlich soll der Anspruch ein menschenwürdiges Dasein sichern. Dies bedeutet auch, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben, um nicht ausgegrenzt und sozial stigmatisiert zu werden. Sind die Hilfebedürftigen allerdings auf Sach- oder Dienstleistungen angewiesen, sind sie eher als Leistungsberechtigte zu erkennen. Damit steigt zwangsläufig die Gefahr einer Stigmatisierung.


1 BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz- Nr. 133, http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html,
2 Ebd., Absatz- Nr. 135
3 ebd., Absatz- Nr. 134
4 ebd., Absatz- Nr. 133
5 ebd., Absatz-Nr.137
6 ebd., Absatz-Nr.138
7 Ebd., Absatz-Nr.204
8 ebd., Absatz- Nr.136
9 ebd., Absatz- Nr.136
10 ebd., Absatz- Nr.139
11 Ebd., Absatz- Nr. 138
12 Ebd., Absatz-Nr.140
13 Ebd., Absatz-Nr.141









 

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