Aktuelle Politik Helmstedt

Kaufen, was einem die Kartelle vorwerfen; lesen, was einem die Zensoren erlauben; glauben, was einem die Kirche und Partei gebieten. Beinkleider werden zur Zeit mittelweit getragen. Freiheit gar nicht. - Kurt Tucholsky

Abschied von der SPD

Helmut Weidemann

Nach über vierzigjähriger Mitgliedschaft verlasse ich meine Partei in Trauer und Zorn. Sie hat ihren Weg geändert, ihre Wurzeln verleugnet, ihre Wähler betrogen. Sie macht sich zum Vollstrecker der Politik ihrer Gegner, zum Werkzeug der Interessen von Kapitalismus und Imperialismus.

Unsere Partei, einst für die theoretische Fundierung ihrer Politik berühmt, wird mit den Problemen unserer Zeit nicht mehr fertig, weil sie sie nicht analysiert. Kurzatmig, planlos und chaotisch geht sie einzelne Tagesfragen an, ohne das Ganze zu betrachten. Am schlimmsten ist ihr Versagen vor der Arbeitslosigkeit. Die SPD will die Möglichkeiten des steuernden Staates nicht nutzen. Was machbar wäre, zeigt etwa Jeremy Rifkin auf (»Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft«). Aber unsere Partei liest nicht – sie handelt. Und sie flüchtet sich in Mätzchen, erfindet die »Ich-AG«, benennt die Arbeitsämter um und frisiert die Statistiken.

Die Demokratie ist unserem Parteivorsitzenden lästig. Gerhard Schröder regiert am liebsten am Parlament vorbei. In Kommissionen und »Bündnissen« – ein lächerlicher Begriff – sollen die Leitentscheidungen fallen. Peter Struck will Auslandseinsätze der Bundeswehr ohne das Bundestagsplenum angeordnet sehen. Was seine Spezialkräfte in Afghanistan unternommen haben, erfährt nicht einmal der Verteidigungsausschuß.

Die SPD hat die drückende Staatsverschuldung verschlimmert, weil sie die Großwirtschaft von der Finanzierung des Gemeinwesens weitgehend freigestellt hat und den Mittelstand sowie die »kleinen Leute« kaum noch weiter auspressen kann. Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung werden zerschlagen, den Menschen wird Geld und Sicherheit genommen, und dreist wird behauptet, damit solle der Sozialstaat gerettet werden. Ärger kann man die Menschen nicht belügen, die einem wiederholt das Mandat zum Regieren erteilt haben. Wohlgemerkt: Es steht außer Frage, daß wir handeln müssen, aber es ist schiere Lüge, daß wir keine Alternativen zum Kurs des Sozialabbaus haben.

Das Prinzip gleicher Bildungschancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien wird mit der von der SPD vorgesehenen Erhebung von Studiengebühren aufgegeben. Die Hochschulen werden, vor allem durch das vom letzten niedersächsischen SPD-Wissenschaftsminister eingeführte Stiftungsmodell, zunehmend dem Kapital ausgeliefert. Wir haben angeblich kein Geld mehr.

 

Für andere Aufgaben aber war und ist Geld da: für die völkerrechtswidrige Bombardierung Jugoslawiens, für den Einsatz in Afghanistan und seine Ausweitung, für vielerlei Unterstützung des völkerrechtswidrigen Irak-Kriegs (von Awacs-Flügen bis zur personalaufwendigen Bewachung amerikanischer Objekte in Deutschland), für den absurden Flotteneinsatz am Horn von Afrika – die Liste läßt sich verlängern. Derzeit sind 8.000 deutsche Soldaten auf Auslandseinsatz, u. a. in Usbekistan, in Georgien und im östlichen Mittelmeer. Über die immensen Kosten dieser Abenteuer wird kein Wort verloren. Sie werden an Rentnern, Kindern, Kranken, Alten, Arbeitslosen und Behinderten wieder eingespart.

In der Partei wird nicht mehr grundsätzlich diskutiert. Kommissionen sollen die Richtung weisen. Ihre Papiere werden für heilig erklärt und der Basis übergestülpt. Die Umsetzung der Elaborate wird mit Rücktrittsdrohungen erzwungen, Abweichler – der Ausdruck ist erschreckend - werden diskriminiert und erpreßt. Der Grundwert der Solidarität, einst gesellschaftsgestaltendes Prinzip, verkommt dabei zum Abwehrrecht gegen parteiinterne Kritik. Es scheint nur noch um Machterhalt zu gehen. Dabei wächst die CDU klammheimlich in die Rolle eines Koalitionärs. Dieses fatale Bündnis gegen die Bürger wird den Endsieg des Kapitalismus über den Sozialstaat besiegeln.

 

Da kann man denn auch die Gewerkschaften nicht mehr brauchen, die – mit wenigen Ausnahmen – noch Widerworte haben. Bedenkenlos wird auf sie eingedroschen, gewissenlos wird die Arbeiterbewegung auch hier geschwächt. Gesetze gegen den Flächentarifvertrag sollen sie endgültig entmachten.

 

Wenn diese Partei jemals erwogen hat, statt der kleinen Leute die Großwirtschaft in Pflicht zu nehmen, ist von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement das Feuerchen rasch ausgetreten worden. Vermögensteuer – kein Thema. Gewerbesteuer, Körperschaftsteuer – werden ausgezahlt, nicht eingenommen. Nie hat einer unserer Genossen eine »Fluchtsteuer« für die Unternehmen erwogen, die ihre Produktion ins Ausland verlagern. Nie hat einer daran gedacht, die Unternehmen zu belangen, die sich nach dem Einkassieren – oft riesiger – staatlicher Subventionen von Deutschland verabschieden. Kündigungs- und Arbeitsschutz werden als lästiger Ballast abgeworfen, blindwütig wird dereguliert, damit die »befreite« Wirtschaft Arbeitsplätze schafft. Doch die Wirtschaft kennt keine Moral. Sie kennt nur Rendite. Derweil frißt sich Armut in das Land

Niemand weiß, wie lange all das noch gut geht, wann der Volkszorn sich Luft macht. Durch vielfache Stimmungsmache gegen Arbeitslose und Rentner, Alte und Sozialhilfeempfänger, Ausländer und Beamte, durch den Popanz von »Generationengerechtigkeit«, durch die Zerstörung der Solidarität in der Gesellschaft entsteht ein explosives Klima. Als gäbe es eine Ahnung drohenden Unheils, werden die Instrumente der Unterdrückung – alias »innere Sicherheit« – verschärft. Man wird sie womöglich brauchen; die Union faselt schon von Einsätzen der Bundeswehr im Innern. Das »Luftsicherheitsgesetz« überschreitet ersichtlich die Grenzen, die das Grundgesetz unserer Verteidigungsarmee zieht.

Mit meinem Austritt werde ich alte Freunde enttäuschen und die Genossen in meinem Ortsverein verlieren. Das tut mir leid, weil sie mir lieb geworden sind. Aber ich will nicht mehr einen Kurs unterstützen, den ich für falsch und verderblich halte. Mein Platz bleibt links.