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„Jeder Tag ist ein Holocaust-Gedenktag“ – Moshe Zuckermann über den 27. Januar

 

Von Tilo Gräser, 27.1.2020

 

Die Eltern von Mose Zuckermann haben die Judenvernichtung in Europa, den Holocaust bzw. die Shoah, überlebt. Der Sohn ist ein renommierter Historiker und Philosoph und gehört zu den deutlichsten jüdischen Kritikern der israelischen Politik. Im Interview spricht er über das Gedenken und erklärt, warum er Israel kritisiert.

 

Professor Zuckermann, was bedeutet für Sie als Sohn von Überlebenden des KZ Auschwitz dieser Tag, der an die Befreiung des KZ 1945 durch die Rote Armee erinnert? Wie haben Sie das als Kind erfahren, was Ihre Eltern erleben und erleiden mussten?

 

Weder der in Israel offiziell festgelegte noch der im Jahr 2005 ausgerufene internationale Holocaust-Gedenktag bedeuten mir etwas. Für mich ist jeder Tag ein Holocaust-Gedenktag, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an den Holocaust denke. Mit kollektiven Gedenktagen kann ich nicht sehr viel anfangen, schon gar nicht, wenn sie für fremdbestimmte Zwecke vereinnahmt werden.

 

Die große Leistung der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg verbindet sich für mich nicht unbedingt mit der Befreiung von Auschwitz. Dass aber diese ungeheure Leistung im Westen immer weniger Würdigung erfährt und die Erinnerung an sie verblasst, ist für mich ein Zeichen dafür, wie selbst dieses geschichtsträchtige Moment inzwischen ideologisiert worden ist.

 

Erfahren habe ich vom Shoah-Schicksal meiner Eltern von ihnen selbst. Im Gegensatz zu vielen Familien von Überlebenden wurde bei uns zuhause darüber geredet.

 

In Deutschland ist dieser Tag der offizielle Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Wenn Sie dazu eine Rede vor dem Deutschen Bundestag halten würden, was wäre für Sie das Wichtigste, dass Sie der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft angesichts von Geschichte und Gegenwart sagen würden?

 

Dass man dieses welthistorische Geschichtsereignis als das erinnern möge, was es war: ein Zivilisationsbruch, wie es Dan Diner einmal genannt hat. Als solches müsse es – bei aller Singularität des jüdischen Schicksals in diesem Ereignis – als etwas gedacht und erinnert werden, das alle Menschen angeht, als ein nicht mehr wegzudenkendes Moment der conditio humana (Bedingung des Menschseins).

 

Ich würde auch darauf hinweisen, dass man in eine ideologische Falle geraten mag, wenn man den Holocaust und die Gründung des Staates Israel, mithin die Raison d'être des Zionismus, in eine allzu lineare, meines Erachtens verkürzte Kausalverbindung setzt. Aber keine Sorge – der deutsche Bundestag würde sich nie einfallen lassen, mich zu einer solchen Rede einzuladen.

 

Wo sehen Sie die deutsche historische Verantwortung heute angesichts dieses monströsen Verbrechens an rund sechs Millionen Menschen?

 

Die deutsche Verantwortung hat einen eher symbolischen Wert für mich. Deutschland sollte führend sein in der Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und allen Formen menschlicher Repression. Den materiellen Tauschwert dieser Verantwortung hat man allerdings schon sehr früh zweckrational ausgehandelt, in den sogenannten „Wiedergutmachungsabkommen“ von 1952. Wenn sich aber aus dieser Form der Verantwortung lediglich ein Bekenntnis zu Israel ableitet, und Israel das ist, was es mittlerweile geworden ist, dann scheint es mir mit der „deutschen Verantwortung“ in dem Sinne, wie ich sie sehe, nicht sehr weit her zu sein.

 

Gegenwärtig und auch zu diesem Anlass wird vor dem Wiederaufkommen des Antisemitismus hierzulande gewarnt. Wie schätzen Sie diesen heute ein, auch angesichts Ihrer Kritik an jenen, die andere des Antisemitismus beschuldigen, was selbst Sie getroffen hat?

 

Einen Bodensatz des Antisemitismus hat es in Deutschland immer gegeben, auch in der gesamten Geschichte der alten BRD. Das hat Wolfgang Benz sehr akribisch erforscht und dargelegt. Deshalb gibt es kein „Wiederaufkommen“ des Antisemitismus in Deutschland, sondern lediglich eine  Durchbrechung seines Tabus. Das Hauptproblem liegt für mich darin, dass die fremdbestimmte Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs in Deutschland mittlerweile solche Ausmaße und Formen angenommen hat, dass selbst Leute wie ich des Antisemitismus bezichtigt werden. Das hängt damit zusammen, dass man in Deutschland sehr selten fähig ist, Judentum, Zionismus und Israel auseinanderzuhalten. Aber auch damit, dass der Antisemitismus-Begriff selbst im deutschen Diskurs total erodiert und verhunzt worden ist.

 

Wie schätzen Sie das Erstarken der „Alternative für Deutschland“ (AfD) ein, die manche als neue Nazis sehen und die eine Gruppe von Juden in ihren Reihen haben?

 

Als ein letztendliches Versagen der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit. Dass es im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Deutschland eine AfD und eine Bezichtigung von linken Juden als Antisemiten geben kann,  bezeugt für mich, dass etwas gründlich schiefgegangen ist. Dass sich Juden dieser Partei anzuschließen vermögen, zeigt mir, dass nicht nur Deutsche, sondern auch Juden die Vergangenheit nicht wirklich und gründlich genug im aufgeklärt-emanzipatorischen Sinne aufgearbeitet haben. Der Faschismus ist offenbar noch unter Deutschen gewärtig. Und wie sich herausstellt, auch unter Juden.

 

Sie waren früher Anhänger des Zionismus und sind heute Kritiker der israelischen Politik. Warum kritisieren Sie die Politik des Landes, das sich auch auf die Überlebenden der Vernichtung der europäischen Juden beruft?

 

Weil dieses Land sich dieser Berufung auf die Überlebenden der Vernichtung der europäischen Juden lediglich ideologisch, also als verlogenes Lippenbekenntnis und perfides Scheinargument, bedient. Weder hat man sich je um das Schicksal der Überlebenden in Israel wirklich gekümmert – viele von ihnen leben heute noch in Armut – noch hat man die moralischen Schlussfolgerungen aus der Katastrophe je wirklich gezogen.

 

Die Politik dieses Landes – vielleicht von Anbeginn, aber auf jeden Fall seit 1967 – war den Palästinensern gegenüber repressiv, gewaltdurchwirkt und barbarisch. Wie soll man eine solche Politik, wenn man sich einer humanistisch-linken Gesinnung verpflichtet weiß, nicht kritisieren? Zu fragen ist vielmehr, wieso so wenige Juden diese Politik kritisieren und ob die Unterlassung dieser Kritik nicht gerade eine Dimension des Verrats an den historischen Opfern in sich birgt.

 

Welche Rolle spielt die Judenvernichtung in Europa durch die deutschen Faschisten heute für Israel als selbsternannten Staat der Juden? Welche Lehren werden daraus gezogen und sollten daraus gezogen werden?

 

Der Zionismus als staatstragende Ideologie Israels hat das Holocaust-Andenken einzig unter dem Aspekt des zionistischen Interesses rezipiert und praktiziert. Israel wird als die historische Schlussfolgerung aus dem Holocaust angesehen, wodurch der Holocaust in Israels Ideologie zum Argument verkommen ist. Es will zuweilen scheinen, als würde Israel von israelischen Politikern – und nicht nur von ihnen – als Telos (Endzweck) des Holocaust verstanden. In der Tat ist es so, dass der Antisemitismus in der Welt den zionistischen Staat nur insofern bekümmert, als es der Raison des Staates dient. Und das heißt letztlich – je mehr Antisemitismus in der Welt, desto günstiger für den Staat Israel. Man ist in Israel nicht empört oder gar bestürzt, wenn man von antisemitischen Vorfällen in der Welt hört. Man ist eher schadenfreudig.

 

Am Freitag hat die Auschwitz-Überlebende Rachel Oschitzki (Jahrgang 1928) in Berlin Deutschland gelobt, weil es viel aus der Geschichte gelernt habe und Israel unterstütze. Sie beklagte auch, über Israel werde zu kritisch und nur das Negative berichtet, aus ihrer Sicht wegen arabisch bezahlter Propaganda und deutsch-arabischen Wirtschaftsinteressen. Gleichzeitig warf sie den Arabern Antisemitismus vor und sagte unter anderem, die Palästinenser könnten in 22 arabischen Ländern leben, wo auch Juden vertrieben worden seien. Würden sie dorthin umsiedeln, könnte das gegenwärtige „schreckliche Leid“ der Palästinenser in Israel bzw. Gaza und Westjordanland beendet werden. Die verfolgten Juden hätten dagegen nur das eine Land, Israel. Sie hob zugleich den jüdischen Humanismus hervor. Was würden Sie Frau Oschitzki darauf antworten?

 

Es ist nicht neu, dass Holocaust-Überlebende selbst einer barbarischen Ideologie anhängen mögen. Geschlagene Kinder können sich selbst zu schlagenden Eltern entwickeln. Frau Oschitzki hat keinem anderen Juden etwas voraus, weil sie Shoah-Überlebende ist. Überlebender-Sein ist eine Lebenstragödie, kein einsetzbares Kapital.

 

Eines kann sie sich gleich abschminken: Wenn sie den Palästinensern anrät, aus Palästina abzuziehen, dann soll sie gefälligst von jüdischem Humanismus schweigen.

 

Worin ist ihr Gerede besser als das von jüdisch-israelischen Faschisten vom Schlage Meir Kahanes, Rechavam Zeevis oder Avigdor Liebermanns (und vieler anderer israelischer Rechtsradikaler)? Was aus ihrem Munde tönt, ist eine allseits bekannte propagandistische Ideologie der israelischen Rechten, nichts anderes als die Apologie der an den Palästinensern verübten israelischen Verbrechen. Dass dabei Frau Oschitzki ihren Frieden mit Deutschland geschlossen hat, nicht so sehr aber mit den Palästinensern, mit denen es den Frieden zu schließen gilt, wenn es um die Zukunft des Staates Israel geht, zeigt nur, wie schlimm es um die Aufarbeitung der Vergangenheit auch unter Juden oft aussieht. Dass dabei eine Shoah-Überlebende zu Wort kommt, markiert nicht zuletzt die Grenzen des Holocaust-Diskurses im heutigen Deutschland.

 

Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel 1970 nahm er sein Studium auf. Später lehrte er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. 2006 und 2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern. Zuckermann ist regelmäßig mit Beiträgen für Hörfunk, Fernsehen und verschiedene Printmedien tätig.