Sieg der Energiemafia gegen die Vernunft
Beitrag v. 2011 Deutsche Umwelthilfe e. V.
Gegen alle Widerstände hat die schwarz-gelbe Bundesregierung die Laufzeiten der derzeit 17 deutschen Atomreaktoren mit Wirkung zum 1. Januar 2011 um nominell acht bis 14 Jahre verlängert. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die umstrittene Hochrisikotechnologie in Deutschland noch etwa 30 weitere Jahre eingesetzt werden soll. Damit droht dem um die Jahrtausendwende begonnenen ökologischen Umbau unseres Energiesystems eine lange Durststrecke. Sollte die Entscheidung Bestand haben, wird sich der über eine Dekade dynamische Ausbau der Erneuerbaren Energien im Stromsektor voraussichtlich erheblich verlangsamen und auf halber Strecke stecken bleiben.
Die auch von Politikern aus CDU/CSU und FDP vielfach beklagte Marktdominanz der vier großen Stromversorger E.on, RWE, EnBW und Vattenfall Europe verlängert sich auf unabsehbare Zeit in die Zukunft, Deutschland droht seine internationale Spitzenstellung bei den neuen, ökologischen Energietechnologien zu verlieren. Wichtige Volkswirtschaften in anderen Industrie- und vor allem Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien würden zudem das Ende der Ausbaudynamik der Erneuerbaren Energien in Deutschland als Nachweis nehmen, dass eine Zukunft ohne Kohle und Atom in einem entwickelten Industrieland eben doch nicht funktioniert. Ein Grund weniger, den in Deutschland abgebrochenen Versuch einer Energiewende als Vorbild zu nehmen. So kann der Beschluss der Bundesregierung über längere Reaktorlaufzeiten in Deutschland schlimmstenfalls sogar den weltweiten Kampf gegen den Klimawandel bremsen.
Die atompolitische Rolle rückwärts
Vor allem aber bedeutet die atompolitische Rolle rückwärts – wenn sie entsprechend umgesetzt wird – dass die Bevölkerung mindestens drei weitere Jahrzehnte mit dem wachsenden Risiko einer verheerenden Reaktorkatastrophe im eigenen Land leben muss. Darüber hinaus würde noch mehr hochradioaktiver Atommüll produziert, von dem mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem kommerziellen Start der nuklearen Stromproduktion niemand auf der Welt weiß, wo und wie er für eine Million Jahre sicher gelagert werden kann.
Mit ihrer Politik hat die Bundesregierung die deutsche Gesellschaft zudem noch einmal in einen schon überwunden geglaubten Fundamentalkonflikt getrieben. Wie vor dreißig Jahren in der alten Bundesrepublik demonstrierten 2010 erneut Hunderttausende gegen die Atomenergie. Für 2011 sind erneut zahllose Demonstrationen und Aktionen angekündigt. Der Kampf um den Salzstock Gorleben wird inzwischen von drei Generationen getragen. Ihr Widerstand fällt umso erbitterter aus, als mittlerweile vieles darauf hin deutet, dass nicht wissenschaftliche Kriterien in den 1970er Jahren für die Standortentscheidung maßgeblich waren, sondern politischer Opportunismus. Die Details versucht immer noch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages aufzuklären. Die schwarz-gelbe Koalition hat sich trotz des fragwürdigen historischen Hintergrunds entschieden, alles auf die Karte Gorleben zu setzen, obwohl auch sie offiziell verkündet, die Eignung des Salzstocks im Wendland werde erst geprüft. Sollten die Gerichte oder spätere Bundesregierungen gegen Gorleben entscheiden, müsste die Suche ganz von vorne beginnen, weil alternative Standorte nicht erkundet werden. Viele weitere Jahre der Verzögerung bis zur Lösung des Problems sind so programmiert – obwohl die Bundesregierung das Gegenteil versichert.
Die Lüge von der Stromlücke
Auch die zur Begründung der Laufzeitverlängerung von Anhängern der Atomenergie oft vorgebrachte Behauptung, ohne sie drohe Deutschland eine Stromlücke, haben die Deutsche Umwelthilfe (Pressemitteilung vom 7. April 2008), aber auch Wissenschaftler des Sachverständigenrats für Umweltfragen, SRU, der Bundesregierung und das Umweltbundesamt mehrfach widerlegt. Tatsächlich ließ sich zeigen, dass bei Fortsetzung des Atomausstiegs wie zuvor geplant, über den gesamten Zeitraum bis zur Stilllegung des letzten Reaktorblocks stets größere Mengen an erneuerbarem Strom hinzukommen wären, als auf der anderen Seite wegen der stufenweisen Abschaltung der Atomkraftwerke weniger produziert worden wären.
Auch unter den neuen Rahmenbedingungen fordert die DUH die Bundesregierung auf, sich endlich den wirklichen Problemen der Energiewende zu widmen, beispielsweise dem Um- und Ausbau der Stromnetze und der Vervielfachung der Stromspeicher-Kapazitäten (www.forum-netzintegration.de) – schon damit im Fall einer von der politischen Opposition bereits angekündigten erneuten Kehrtwende der Energiepolitik nicht wertvolle Zeit verloren geht.
Geld sparen durch den Atomausstieg
Deutschland hätte sich mit der Fortsetzung des Atomausstiegs auch nicht – wie von der Atomlobby behauptet – weltweit isoliert. Abgesehen davon, dass nur eine Minderheit von 30 der rund 200 UN-Staaten die Atomenergie kommerziell einsetzt, findet auch die von den Atomkraftbefürwortern behauptete weltweite Renaissance der Atomenergie in der Realität keine Bestätigung. In Wahrheit gibt es seit etwa zwanzig Jahren eine „Renaissance der Ankündigungen“, während in den nächsten Jahren absehbar erheblich mehr Reaktoren abgeschaltet werden als neue hinzukommen. Zu diesem Ergebnis kommt beispielsweise die Baseler Prognos AG in einer 2009 veröffentlichten Analyse im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Zwar gibt es weltweit mehrere Dutzend Neubauprojekte, wo der Staat selbst als Bauherr und späterer Betreiber der Kraftwerke auftritt (vor allem in China) oder aber mit opulenten Subventionen nachhilft. Die wenigen nicht-staatlichen Projekte (auch sie werden durchweg subventioniert) zeichnen sich durch regelrechte Kostenexplosionen und massive Bauverzögerungen aus. Die beiden ersten Reaktorbaustellen des Europäischen Druckwasserreaktors EPR in Finnland und Frankreich entfalten deshalb eine abschreckende Wirkung auf viele Investoren, die über Neubauprojekte nachdenken.
Klimaschützende Atomkraftwerke sind eine Mähr
Unter Experten unstrittig ist, dass selbst ein gewaltiges – und angesichts der Kosten und mangelnder Industriekapazitäten ohnehin unrealistisches – weltweites Ausbauprogramm mit tausend und mehr neuen Atomkraftwerken nur einen geringen Effekt bei der Eindämmung der Klimaerwärmung hätte. Stattdessen würden sich wegen des zivil-militärischen Charakters der Atomtechnologie die Probleme der unkontrollierten Weiterverbreitung von Atomwaffen vervielfachen. Weil zudem bei einem solchen Ausbauprogramm der in der Erdrinde nur begrenzt verfügbare Spaltstoff Uran-235 sehr schnell verknappen würde, müssten die Reaktorhersteller die schon weitgehend aufgegebene Option auf schnelle Brutreaktoren wiederbeleben. Brutreaktoren sind nicht nur noch gefährlicher als normale Atomkraftwerke. Sie ziehen auch den Einstieg in die Plutoniumwirtschaft nach sich mit dem Ergebnis, dass der gefährlichste und giftigste Atombombenstoff in immer mehr Ländern verfügbar wäre. Die Erde wäre entscheidend unsicherer als heute.
Nachzulesen unter:
Gerd Rosenkranz: „Mythen der Atomkraft – Wie uns die Energielobby hinters Licht führt“, oekom-Verlag München 2010).