11. August 2020   Themen

Stephen Hawking über die Menschen: "... zu dumm, zu gierig und zu viele ..."

Beitrag und Kommentar: Roswitha Engelke

Was sind die größten Gefahren für unsere Erde? Für den Starphysiker Stephen Hawking war  das ganz klar: die  Gier, die  Dummheit und die Überbevölkerung.

Obwohl die Bevölkerungsexplosion die Grundursache der Umweltprobleme ist, ist Bevölkerungskontrolle in unserer westlichen plutokratisch orientierten Gesellschaft immer noch ein Tabu-Thema.  Dummheit und Ignoranz scheinen in engem Zusammenhang mit Kapitalanhäufung zu stehen.

 

Lukas Fierz © f

 

Wir sind zu viele – Ein Tabu, Autor: Lukas Fierz 27.06.2019

(Der Autor ist Arzt in Bern mit Spezialgebiet Neurologie. Er politisierte früher in der Grünen Fraktion im Nationalrat.)

Als ich 1941 geboren wurde, hatte die Erde 2,5 Milliarden Bewohner, die Schweiz 4 Millionen. Jetzt bevölkern gegen 8 Milliarden Menschen die Erde, und in der Schweiz leben 8,5 Millionen.

All diese Menschen zu ernähren, ist nur mit Intensivlandwirtschaft möglich: mit massiver Zufuhr von fossiler Energie, Pestiziden und Dünger. Das ruiniert die Biodiversität und die Böden. Wegen der globalen Klimaerwärmung sollten wir aber keine fossile Energie mehr verwenden. Und die Düngerlager sind endlich, sie reichen nur für wenige Hundert Jahre. Eine nachhaltige, biologische Landwirtschaft ohne Energie- und Düngerzufuhr vermöchte weit weniger Menschen ernähren – etwa eine bis maximal zwei Milliarden.

Damit sind wir aber noch lange nicht am Ende der Kalamitäten: Die Klimaerwärmung wird eine Verringerung der globalen Ernteerträge bewirken und den Druck von Hunger, Migration und Kriegen verstärken. Und die gewaltige Zahl von Menschen, die auch konsumieren wollen, macht die weltweite Klimaerwärmung vollends unbeherrschbar. So äusserte zum Beispiel Chinas Energieindustrie Absichten, bis 2030 jeden Monat zwei neue Kohlekraftwerke zu bauen, um den wachsenden Energiebedarf zu decken.

Das massive Bevölkerungswachstum und die Zunahme des sogenannten Kulturlandes haben die Lebensräume für die nichtmenschlichen Arten massiv beschnitten. Mittlerweile sind in der Schweiz 60 Prozent von 1143 untersuchten Insektenarten vom Aussterben bedroht und weltweit eine Million der acht Millionen Arten von Lebewesen. Das ist nicht einfach ein Verlust an Naturromantik, denn es drohen Störungen und Ungleichgewichte in der Natur: So ist zum Beispiel die Pflanzenwelt für Bestäubung und Fortpflanzung auf Insekten angewiesen. Das Artensterben wird auch für die Spezies Mensch zur tödlichen Bedrohung. Deshalb fordert der berühmte Insektenforscher und Ökologe Edward O. Wilson in seinem Buch «Die Hälfte der Erde», die halbe Erdoberfläche für die Wildtiere zu reservieren.

Artensterben, Hunger, Kriege

Die grosse Bevölkerungszahl hat noch weitere Konsequenzen: Eine Stadt mit 100'000 Einwohnern könnte ohne Autos und fast ohne öffentlichen Lokalverkehr funktionieren. Erst bei grösseren Städten entstehen die grossen und ineffizient energiefressenden Pendlerströme, die uns von fossiler Energie abhängig machen und die Biosphäre mit CO2 vergiften.

Auch gewisse Auswüchse des Tourismus stehen in Zusammenhang mit den Bevölkerungszahlen: Gerade in der Schweiz sind viele Ferienorte durch Überbauung und Übernutzung derart verschandelt worden, dass manche Erholungssuchende ihre Ferien lieber anderswo verbringen. Man denke nur an Davos, St.Moritz oder Crans-Montana. Auf der Suche nach «unverdorbener Natur» reist man dann in ferne Länder – meistens per Flugzeug – und ruiniert auch noch den übrigen Planeten.

Nicht zuletzt hat der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Gunnar Heinsohn nachgewiesen, dass ein grosser männlicher Geburtenüberschuss die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs erhöht («Kriegsindex»), ein Mechanismus, welchen die Historiker bis jetzt übersehen hatten.

Wenn wir immer noch eine Weltbevölkerung von 2,5 Milliarden hätten wie 1941, so wäre die Umweltkatastrophe wohl leichter abzuwenden. Mit einer Weltbevölkerung, die gegen acht, zehn Milliarden und darüber hinaus wächst, wird es hingegen mehr als fraglich, ob wir die Kurve kriegen.

Und selbst wenn wir sie kriegen: Verzicht auf Autos, Flüge und Fleisch ginge ja noch – aber eine Welt ohne Kühe, Milch, Butter, Käse, mit Protein aus Heuschrecken und Maden...?

Nach wie vor ein Tabu

Es überrascht deshalb, wie Überlegungen zur Überbevölkerung tabuisiert oder gar dämonisiert werden. Ein gutes Beispiel dafür war 2014 die Schweizer Volksinitiative «Ecopop», die das globale Bevölkerungswachstum eindämmen wollte.

 Von den Initianten kenne ich Benno Büeler, einen integren Mathematiker und Agronomen, der in vielen Entwicklungsländern vor Ort gesehen hat, wie die katastrophale Übernutzung von Weide- und Ackerflächen die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört – und zwar unabhängig von der Klimaerwärmung. Die Initiative forderte unter anderem, dass in diesen Ländern 10 Prozent der schweizerischen Entwicklungshilfe in die freiwillige Familienplanung investiert werden sollten.

Alle Parteien stellten sich dagegen. Mehr noch: Als Co-Autor des Buches «Die unheimlichen Ökologen» rückte der grüne Nationalrat und Fraktionspräsident Balthasar Glättli Benno Büeler und die Leute von Ecopop in die Nähe von braunem Gedankengut und Faschismus. Eine bösartige Unterstellung und – was noch schlimmer ist – der Beweis, dass er vom Problem überhaupt nichts begriffen hat, ebenso wenig wie die grüne Parteipräsidentin Regula Rytz, die eifrig in diesen Chor einstimmte. Nur die grünen Nationalräte Bastien Girod und Yvonne Gilli versuchten 2009 in einem vorsichtig formulierten Arbeitspapier, das Thema Bevölkerungskontrolle anzudiskutieren, wurden aber intern gestoppt. 

Später, bei einer Buchpräsentation mit öffentlicher Diskussion in Bern, nahm Balthasar Glättli seine Vorwürfe zurück: Benno Büeler sei informiert und integer, es bestehe nicht der geringste Anlass, ihn in die Nähe des Faschismus zu rücken. 

In der Vergangenheit hatte Balthasar Glättli gefordert, die Schweiz solle Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Ich setzte ihm auseinander, dass selbst bei Einhalten des Pariser Klimaziels grosse Teile des Mittleren Ostens, Afrikas und Südeuropas austrocknen werden. In der Folge könnten schon in den nächsten Jahrzehnten Hunderte von Millionen von «Umweltflüchtlingen» nach Europa kommen. Wie er sich den Umgang mit diesem Problem vorstelle? Glättlis kurze Antwort: «Das ist nicht mehr zu händeln» (engl. to handle, handhaben).

Viele Grüne machen es sich zu einfach. Anstatt sich ernsthaft mit dem Problem auseinanderzusetzen, bilden sie sich ein, dass mit guten Absichten auch Erfolge garantiert seien. Ich nenne diese Varietät des Grüntums die «Gesundbeter». Doch aus der Medizin habe ich gelernt, dass gegenüber dieser Haltung grösstes Misstrauen angebracht ist, denn in der Regel wird damit das Gegenteil von dem erreicht, was eigentlich beabsichtigt war.

In den sogenannten entwickelten Nationen haben wir zwar keine Geburtenüberschüsse mehr, aber wenn man sich dem Problem wirklich stellen wollte, müsste man zum Schluss kommen: Wir sind insgesamt zu viele. Die bestehende und zu erwartende Weltbevölkerung ist mit dem Erhalt der Lebensgrundlagen nicht in Einklang zu bringen, wenn wir einen auch nur bescheidenen Wohlstand für alle gewährleisten wollen. Würden wir mit Edward O. Wilson im eigenen Interesse die Hälfte der Lebensräume den Wildtieren zuweisen, hätte die Erde höchstens noch Platz für eine Milliarde Menschen. Fast niemand wagt, darüber zu sprechen. Immerhin hat die junge US-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (*1989) diesbezügliche Aussagen gemacht. Und die Website «All in to save the world»  listet bei den Massnahmen, die jeder ergreifen kann, die Einkindfamilie als höchste Priorität. Wenn man eine Milliarde Erdenbewohner erreichen will, so braucht es die Einkindfamilie während fast drei Generationen. (Lukas Fierz ist Arzt mit Spezialgebiet Neurologe. Er war Berner Stadtrat und 1986 bis 1991 Mitglied der Grünen Fraktion im Nationalrat. Seither ist er politisch nicht mehr aktiv.)

Die Zahl der Erdenbewohner wird sich laut einer UN-Prognose zur Entwicklung der Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,74 Milliarden und bis 2100 auf 10,87 Milliarden erhöhen

Noch immer ist Frauen und Männern in vielen Ländern keine Kontrolle ihrer Fruchtbarkeit möglich, weil ihnen schlicht der Zugang zu Verhütungsmitteln fehlt. Wenn sich das nicht ändert, haben wir im kommenden Jahrhundert in vielen Weltregionen mit ökologischen und humanitären Problemen zu rechnen.

Irgendwann im Jahre 1999 hat die Weltbevölkerung die Sechs-Milliarden-Grenze überschritten. Die letzte Milliarde war binnen nur zwölf Jahren dazugekommen. Genau wie die Jahrtausendwende sind auch diese Schwellen willkürlich, Kunstprodukte unseres Dezimalsystems, aber sie geben uns Gelegenheit, bei wichtigen Entwicklungen eine Zwischenbilanz zu ziehen.

In den vergangenen 30 Jahren ist die Fertilitätsrate – die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau – weltweit gesehen von fast 6 auf 2,9 zurückgegangen, und schon hört man den einen oder anderen spekulieren, dass die Gefahr der Überbevölkerung damit abgewendet sei.

Weit gefehlt – die Weltbevölkerung wächst noch immer jährlich um 78 Millionen, was der Einwohnerzahl ganz Deutschlands entspricht. Da bis vor kurzem die Großfamilie noch die Norm war, gibt es viele Länder mit einem hohen Anteil junger Menschen.

Aus dieser Bevölkerungsstruktur folgt ein mit Sicherheit noch jahrzehntelang anhaltendes schnelles Wachstum, und zwar hauptsächlich in den Entwicklungsländern, wo es häufig zu wenig oder gar keine Hilfestellung bei der Familienplanung gibt. Mangelt es aber in einem Land bereits an medizinischer Versorgung, Geld und Schulen, ganz zu schweigen von ausreichender Nahrungsmittel- und Wasserversorgung, dann zieht ein rasches Bevölkerungswachstum viel menschliches Leid nach sich.

Weltweit kommt es jeden Tag 400000 Mal zu einer Empfängnis. Knapp die Hälfte davon ist das Ergebnis einer bewussten, freudigen Entscheidung, die andere Hälfte jedoch kommt unabsichtlich zu Stande und wird oft genug bitter bereut. In einer Reihe von Erhebungen in über 50 armen Ländern wurden insgesamt mehr als 300000 Frauen befragt, wie viele Kinder sie wollten; fast überall bringen sie demnach mehr Nachkommen zur Welt, als sie eigentlich wollen.

Als ich in den sechziger Jahren als Arzt für Geburtshilfe in einem Londoner Krankenhaus arbeitete, pflegte ich die frisch gebackenen Mütter zu fragen: "Und wann wollen Sie Ihr nächstes Baby?" Worauf oft die Antwort kam: "Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen, Herr Doktor." Sie waren also froh, dass ich ihnen mit meiner Frage entgegengekommen war und das heikle, aber wichtige Thema angeschnitten hatte; mein Chef im Hospital war jedoch überhaupt nicht begeistert davon, dass ich über Geburtenkontrolle diskutierte. Ich lernte daraus, dass Familienplanung zwar der Wunsch der Betroffenen, ansonsten aber ein "heißes Eisen" war.

Wirtschaftliche und kulturelle Fortschrittshemmnisse


Während der letzten 30 Jahre ist in vielen Ländern das Angebot an Familienplanungsdiensten erheblich verbessert worden. In der Dritten Welt ist der Anteil der Paare, die Kontrazeptiva verwenden, von einem Zehntel auf fast die Hälfte gestiegen. Ein Anstieg von 15 Prozent bei der Verhütung bedeutet durchschnittlich eine Geburt weniger je Frau; in Äthiopien zum Beispiel verhüten nur etwa 4 Prozent der Frauen und die Fertilitätsrate liegt bei 7, während in Südafrika 53 Prozent Empfängnisverhütung betreiben und die Fertilität 3,3 beträgt. Der Wunsch nach kleineren Familien breitet sich immer mehr aus. In Zusammenarbeit mit der Asiatischen Entwicklungsbank in Laos, einem der ärmsten Länder der Welt, wurden die Einwohner befragt, welche Art Hilfe sie am dringendsten bräuchten. Die Männer forderten Arbeitsplätze, bei den Frauen stand an erster Stelle die Familienplanung.

Bedarf und Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln klaffen natürlich in Ländern wie Äthiopien oder Westafrika, wo sechs Kinder pro Frau normal sind, in einem ganz anderen Maße auseinander als etwa in Italien, das mit 1,2 eine der niedrigsten Fertilitätsraten der Welt hat. Überall dort jedoch, wo weniger Kinder gewünscht wurden, ist bisher die Fertilität zurückgegangen, sobald man den Menschen Gelegenheit zu wirksamer Familienplanung gab. Entscheidend ist, dass sie zwischen verschiedenen Methoden wählen und gegebenenfalls auch eine gefahrlose Abtreibung in Anspruch nehmen können. Die größte Akzeptanz dürften in den Entwicklungsländern die Pille, das Kondom und die Verhütungsspritze finden.

Leider sind in manchen Regionen der Welt Verhütungsmittel gerade für die Menschen, die sie am dringendsten nötig hätten, zu teuer oder überhaupt nicht erhältlich. Seit kurzem gibt es ein Kondom für die Frau, aber in den ärmsten Ländern wird es möglicherweise unerschwinglich bleiben. In Sri Lanka sah ich, wie Frauen fünf einzelne Antibabypillen kauften: Sie waren entschlossen zu verhüten, aber zu arm, um eine komplette 21-Stück-Packung bezahlen zu können. Schätzungsweise 120 Millionen Paare in den Entwicklungsländern möchten vorerst kein weiteres Kind, haben aber zu Familienplanungsmethoden keinen Zugang oder wissen zu wenig darüber. Für sie ist eine Schwangerschaft allzu oft ein Grund zur Verzweiflung statt zur Freude.

Es ist nicht leicht, die Kinderzahl zu begrenzen. Die fruchtbare Phase im Leben einer gesunden Frau kann vom 12. bis zum 50. Lebensjahr dauern, und Männer sind von der Pubertät bis an ihr Lebensende zeugungsfähig. Viele Paare haben ungeschützten Verkehr, weil sie nicht wissen, wo es Verhütungsmittel gibt oder sie sich nicht leisten können. Für andere ist Sex mit Gewalt verbunden, die der Frau gar keine Möglichkeit lässt, noch Vorkehrungen gegen eine ungewollte Schwangerschaft zu treffen. Eine Umfrage im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh ergab 1998, dass 43 Prozent der verheirateten Frauen von ihren Ehemännern geschlagen wurden. Diesen Frauen helfen nur Verhütungsmittel, die sehr leicht zu beschaffen sind.

In vielen Ländern gibt es gesetzliche Hindernisse. So war die Pille in Japan bis zum vergangenen Jahr verboten; entsprechend oft blieb den Japanerinnen nur die Abtreibung. In Irland war die Abgabe von Kondomen bis Anfang der 90er Jahre auf bestimmte Verkaufsstellen beschränkt, und noch heute wollen viele Apotheker nichts damit zu tun haben. Die indische Regierung erlaubt keine Verhütungsspritzen, obwohl diese Methode im benachbarten Bangladesh gern angewendet wird. Die Wohlhabenden können derlei Hindernisse zwar meist umgehen, die Armen aber nicht.

In manchen Staaten sind Verhütungsmittel verschreibungspflichtig; die vielen Dörfer Afrikas und Asiens, in denen es wenige oder gar keine Ärzte gibt, haben deshalb praktisch keinen Zugang dazu. In Thailand haben viele Frauen begonnen, die Pille zu nehmen, seit man sie auch bei Krankenschwestern und Hebammen bekommt. Wenn eine restriktive Verordnungspraxis die Wahlmöglichkeiten in der Familienplanung einschränkt, dann macht das die Verhütung nur teurer, aber nicht besser. Dabei ist die Pille weniger schädlich als Aspirin – um die Weltgesundheit wäre es besser bestellt, wenn man sie an jeder Ecke kaufen könnte und es dafür Zigaretten nur auf Rezept gäbe.

Bietet man den Verbrauchern verschiedene Verhütungsmethoden zur Wahl und sorgt für vernünftige Preise und leichte Erhältlichkeit, dann geht die Kinderzahl zurück; ein schlagendes Beispiel dafür ist die Entwicklung in Südkorea und auf den Philippinen. In beiden Ländern hatte die Durchschnittsfamilie 1960 etwa sechs Kinder. 1998 war die Fertilität in Südkorea auf 1,7 gesunken – doch auf den Philippinen lag sie noch immer bei 3,7, weil es dort weniger Hilfestellung bei der Familienplanung gibt. Ökonomischen Forschungen zufolge sind kleine Familien eine Voraussetzung für ein höheres Pro-Kopf-Einkommen. Der Unterschied in den Fertilitätsraten könnte also letztlich die Erklärung dafür sein, dass das Durchschnittseinkommen in Südkorea 1998 bei 10550 Dollar lag, auf den Philippinen aber bei nur 1200 Dollar.

Die eingeschränkte Freiheit der Wahl


In Kolumbien ist die Fertilität von 6 auf 3,5 gesunken, seit 1968 Verhütungsmittel allgemein erhältlich wurden; in Thailand dauerte dieser Sprung sogar nur acht Jahre. Die USA jedoch brauchten für genau den gleichen Rückgang fast 60 Jahre, von 1842 bis 1900: 1873 erklärte der Kongress auf Betreiben des Tugendaktivisten Anthony Comstock Verhütungsmittel für gesetzeswidrig, und erst 1965 setzte der Oberste Gerichtshof die letzten Gesetze außer Kraft, die Empfängnisverhütung unter Strafe stellten. Zwar gab es in den USA des 19. Jahrhunderts keine Umfragen über die gewünschte Familiengröße, aber ich habe den Verdacht, dass auch hier viele Paare mehr Kinder hatten als beabsichtigt.

Wie Familienplanung den Frauen helfen kann, sich vom jahrhundertealten Joch des Gehorsams gegen die Schwiegermutter und der Untertänigkeit gegen den Ehemann zu befreien, zeigt besonders gut ein Vergleich der gegensätzlichen Fälle Bangladesh und Pakistan. Die beiden Länder waren bis zum Bürgerkrieg 1971 eine politische Einheit gewesen; eine Frau hatte im Durchschnitt sieben Geburten. In Bangladesh bemüht man sich seit 20 Jahren systematisch, verschiedene Methoden der Geburtenkontrolle anzubieten, auch die Pille und Verhütungsspritzen. Damit liegt es bei der Frau, ob sie schwanger werden will oder nicht; sie muss sich nicht darauf verlassen, dass ihr Mann ein Kondom benutzt. In der Folge ist die Fertilität in Bangladesh trotz der bitteren Armut auf 3,3 gefallen, während der Anteil der Frauen, die verhüten, von 5 Prozent in den siebziger Jahren auf heute 42 Prozent gestiegen ist. Von solchen Veränderungen ist in Pakistan nichts zu bemerken; dort hat der größte Teil der Bevölkerung keinen Zugang zu Verhütungsmitteln, und die Frauen gebären im Durchschnitt 5,3 Kinder. Die Folgen dieses Unterschieds werden weit ins 21. Jahrhundert hinein wirksam bleiben: Bis 2050 wird zwar auch die Bevölkerung von Bangladesh noch um 65 Prozent wachsen – doch Pakistan ist dann wahrscheinlich 2,2-mal so volkreich wie heute.

In den letzten hundert Jahren hat sich die Weltbevölkerung vervierfacht, allein seit meinem Geburtsjahr 1935 fast verdreifacht. Das ist der größte demographische Wandel, den die Geschichte je gesehen hat. Der Hauptgrund ist der eigentlich begrüßenswerte Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit – eine Folge verstärkter öffentlicher Gesundheitsvorsorge wie zum Beispiel der Schutzimpfungen. Leider wurde dieser Fortschritt nicht von einer entsprechenden Ausbreitung moderner Empfängnisverhütung begleitet.

Erst seit dem 19. Jahrhundert ist es normal, dass in einer Familie mehr als zwei Kinder das Erwachsenenalter erreichen; sonst wäre es schon viel früher zu einer Bevölkerungsexplosion gekommen. Große Familien sind also eine vergleichsweise moderne Anomalie, die nicht von Dauer sein wird. Kleine Familien belasten die Umwelt weniger, sind volkswirtschaftlich sinnvoll – und haben selber den unmittelbaren Nutzen. Forschungen in Thailand haben gezeigt, dass Kinder mit höchstens zwei Geschwistern mit größerer Wahrscheinlichkeit regelmäßig die Schule besuchen als Kinder aus Familien mit vier oder mehr Sprösslingen. Sowohl Mütter als auch Kinder haben signifikant bessere Überlebenschancen, wenn zwischen den Schwangerschaften Abstände von mindestens zwei Jahren liegen. In jeder Minute stirbt auf der Welt eine Frau an Komplikationen bei Schwangerschaft, Geburt oder Abtreibung, 99 Prozent davon in den Entwicklungsländern. Eine bessere Versorgung mit Verhütungsmitteln würde diesen Tribut erheblich reduzieren und alljährlich rund 100000 Frauen das Leben retten.

In den 60er Jahren sprachen Demographen und Politiker von "Bevölkerungskontrolle", was den Eindruck erweckte, die reichen Länder wollten den anderen vorschreiben, wie sie zu leben hätten. Inzwischen hat man begriffen, dass das sicherste Mittel zur Senkung der Geburtenraten in der freien Entscheidung erwachsener Menschen besteht: Man muss nur mit ihnen reden, ihnen zuhören und ihnen ein entsprechendes Angebot an Verhütungsmethoden zur Verfügung stellen; daraus werden sie dann selbstständig wählen, was ihnen am besten zusagt.

Geld spielt natürlich eine entscheidende Rolle. Viele Menschen in den Entwicklungsländern können durchaus einen kleinen Betrag für moderne Kontrazeptiva aufbringen, aber mit den vollen Kosten von Herstellung, Verteilung und Werbung ist man in armen Ländern überfordert. In einigen wenigen Ländern – Indien und Indonesien zum Beispiel – gibt es Verhütungsmittel kostenlos oder zu staatlich subventionierten Preisen. Doch oft ist der Staat zu arm oder zu korrupt, um die Familienplanung ausreichend zu forcieren.

Insofern sind die Hunderte Millionen Menschen weltweit, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben, auf Unterstützung aus reichen Ländern angewiesen. Anlässlich der "Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung", die 1994 unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in Kairo stattfand, erreichten diese Einsichten eine breitere Öffentlichkeit. Ein Aktionsprogramm wurde beschlossen, das die traditionellen Bemühungen um Geburtenkontrolle von der reinen Familienplanung auf die Bekämpfung der Müttersterblichkeit, die Behandlung von sexuell übertragbaren Krankheiten und die Eindämmung von AIDS ausweitete. Die Kosten wurden für das Jahr 2000 auf 17 Milliarden Dollar veranschlagt, von denen 6,5 Milliarden (beim Dollarkurs von 1998) aus den Industrienationen kommen sollten.

Gegenwärtig sieht es allerdings nicht danach aus, dass diese Mittel auch zur Verfügung stehen werden. Die Ausgaben der wohlhabenden Länder für Entwicklungshilfe haben 1998 ihren tiefsten Stand seit 30 Jahren erreicht, und nur etwa drei Prozent davon waren zur Unterstützung der Familienplanung sowie für die Versorgung rund um Schwangerschaft und Geburt vorgesehen. Tatsächlich haben die USA in den vergangenen Jahren ihre Unterstützung für internationale Programme zur Familienplanung sogar noch gekürzt.

Die Industrieländer stellten im letzten Jahr nur etwa ein Drittel der Summe zur Verfügung, die sie in Kairo zugesagt hatten. Das reicht vielerorts nicht einmal dafür, mit den steigenden Kosten für Kontrazeptiva sowie für Antibiotika zur Therapie von Geschlechtskrankheiten Schritt zu halten.

Zukunftsszenarien und Zählung der Ungeborenen


Von den künftigen Eltern der Kinder des 21. Jahrhunderts sind viele schon geboren, daher lässt sich die Entwicklung der Weltbevölkerung bis etwa zum Jahr 2050 verlässlich abschätzen. Die letzten Langzeitprojektionen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen stammen aus dem Jahr 1998; ihnen zufolge ist für 2050 mit einer Bevölkerungszahl zwischen 7,3 und 10,7 Milliarden zu rechnen, wobei die wahrscheinlichste Ziffer mit 8,9 Milliarden angegeben wird.

Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass diese "wahrscheinlichste Zahl" auf der Voraussetzung basiert, dass der Gebrauch von Verhütungsmitteln kontinuierlich zunimmt und die Geburtenraten entsprechend sinken. Konkret geht man davon aus, dass die Fertilität in der Dritten Welt bis 2050 auf 2,1 zurückgeht, was bei den derzeitigen Trends eher unwahrscheinlich ist. In weiten Teilen Afrikas und Südasiens liegen die Fertilitätsraten nämlich weit über 2,1, und wenn die Familienplanungsmittel nicht aufgestockt werden, sehe ich keinen Grund zu der Annahme, dass ein Rückgang der Fertilität in dem Maße stattfinden wird, wie es die "wahrscheinlichste Zahl" der UN voraussetzt.

In den Prognosen von 1998 ist notwendigerweise die stetige Ausbreitung des AIDS-Virus in vielen Ländern berücksichtigt. Wahrscheinlich werden im Jahre 2010 weit über 40 Millionen Menschen infiziert sein, eine Zahl, die vergleichbar ist mit dem Blutzoll des Zweiten Weltkriegs unter Zivilbevölkerung und Streitkräften. In den 29 am stärksten betroffenen Ländern hat AIDS die durchschnittliche Lebenserwartung bereits um sieben Jahre herabgesetzt; aber trotz dieses verheerenden Aderlasses wird Afrikas Bevölkerung von heute 750 Millionen auf über 1,7 Milliarden im Jahre 2050 wachsen, allein auf Grund der Dynamik seiner heutigen, jugendlastigen Altersstruktur.

Nun sind Projektionen des Bevölkerungswachstums keine festen Vorhersagen, sondern Aussagen nach dem Muster "was wäre, wenn". Bleibt es bei der unzureichenden Förderung der Familienplanung, dann sind drei Szenarien denkbar, die sich gegenseitig nicht ausschließen müssen:

Szenario 1: Die Geburtenraten bleiben weiterhin höher, als die Vereinten Nationen für ihre Schätzungen annehmen. Kleine Abweichungen im Tempo, mit dem die Fertilität in den nächsten Jahrzehnten abnimmt, haben tief greifende Folgen bis weit ins 22. Jahrhundert hinein. Angenommen zum Beispiel, Nigeria mit seinen heute 114 Millionen Menschen würde 2010 das Ersatzniveau der Fertilität von 2,1 erreichen; dann würde sich seine Einwohnerzahl um das Jahr 2100 bei etwa 290 Millionen stabilisieren. Ginge die Kinderzahl pro Frau erst 2030 auf 2,1 zurück, dann stiege die Bevölkerung auf 450 Millionen an, und die Bevölkerungsdichte wäre bereits um 40 Prozent höher als in den heutigen Niederlanden. Wäre das Ersatzniveau auch 2050 noch nicht erreicht, dann könnte die Einwohnerzahl theoretisch auf 700 Millionen anschwellen. Praktisch würden Seuchen und Hungersnöte die Bevölkerung schon lange vorher auf höchst inhumane Weise dezimieren.

Szenario 2: Kommt es nicht zu einer Stärkung der Familienplanung, dann könnte die eine oder andere Regierung versucht sein, ähnlich rigorose Maßnahmen zur Einschränkung des Bevölkerungswachstums zu verhängen wie China. Unter Mao Tse-tung war in den 50er und 60er Jahren aus ideologischen Gründen die große Familie gefördert worden. (Auf Taiwan, wo Verhütungsmittel allgemein erhältlich waren, sank die Fertilität unterdessen mit Rekordgeschwindigkeit.) 1979 sahen sich die Chinesen mit einem lawinenartigen Bevölkerungswachstum konfrontiert; der Staat wusste dem nicht anders beizukommen als mit der Beschränkung der Kinderzahl auf nur eines pro Paar. Trotz der strikten Ein-Kind-Politik stieg die Zahl der Chinesen von 989 Millionen im Jahre 1979 auf heute 1,25 Milliarden – ein Zuwachs, der nur knapp unter der gesamten Einwohnerzahl der USA liegt, und das bei einer vergleichbaren Fläche beider Länder.

Szenario 3: Die Abtreibungszahlen könnten erheblich ansteigen. Weltweit kommt derzeit auf jede Frau einmal im Leben eine Abtreibung. Auf der Grundlage von Daten aus Afrika schätzt man, dass die von den Vereinten Nationen angepeilten Geburtenraten bei anhaltendem Mangel an Kontrazeptiva nur mit einer Versechsfachung der Abtreibungsraten zu erreichen sind. Ein solcher Anstieg würde Tausende von Frauen das Leben kosten, denn Abtreibungen werden oft unter nicht fachgerechten Bedingungen vorgenommen.

Mit dem beginnenden neuen Jahrtausend wird sich eine neue geopolitische Verwerfungslinie herausbilden, welche die Länder nach ihrem Erfolg oder Misserfolg bei der Familienplanung trennt. Die erst jüngst industrialisierten Staaten Asiens und Lateinamerikas, in denen sich bis 2010 die Kinderzahl pro Familie bei zwei oder weniger einpendelt, werden sich dem Klub der reichen westlichen Nationen anschließen. Der Altersdurchschnitt ihrer Bevölkerung wird langsam steigen, und um 2050 wird der Anteil der über 60-Jährigen doppelt so hoch sein wie heute.

Den Kreis der übrigen Länder in Afrika und auf dem indischen Subkontinent wird ihr ausuferndes Bevölkerungswachstum überrollen. In riesigen Mas-sen werden junge Menschen mit wenig Schulbildung und noch weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz aufwachsen. In den wuchernden städtischen Slums werden aufrührerische Banden Zulauf erhalten; die letzten Regenwälder werden den Versuchen der Bevölkerung zum Opfer fallen, irgendwie ihr Leben zu fristen.

Die Kairoer Konferenz konstatierte, dass "eine baldige Stabilisierung der Weltbevölkerungszahl ein entscheidender Beitrag auf dem Weg zu nachhaltiger Entwicklung wäre". Die Umgestaltung der Weltwirtschaft im Sinne einer ökologischen Nachhaltigkeit könnte sich als die größte Herausforderung der Menschheit erweisen.

Dieser Wandel wird nur gelingen, wenn jede Gesellschaft sowohl ihren Konsum als auch ihre Bevölkerungszahl vermindert. Den westlichen Lebensstandard für alle könnte unser Planet schon heute nicht mehr verkraften. Im Jahre 2025 wird nach Voraussagen vieler Experten eine Milliarde Menschen von akuter Wasserknappheit betroffen sein.

Zum Glück mangelt es nicht an Expertenwissen darüber, wie Familienplanung unters Volk gebracht werden kann. Es würde die Industrieländer weniger als 5 Dollar pro Kopf und Jahr kosten, diesen lebenswichtigen Bedarf zu decken.

Literaturhinweise

Sex and the Birth Rate: Human Biology, Demographic Change, and Access to Fertility-Regulation Methods. Von Malcolm Potts in: Population and Development Review, Bd. 23, Heft 1, S. 1–39, März 1997.

6 Billion: A Time for Choices. The State of World Population 1999. UNFPA, United Nations Population Fund, New York 1999.

Let Every Child Be Wanted: How Social Marketing Is Revolutionizing Contraceptive Use Around the World. Von Philip D. Harvey. Greenwood Publishing, 1999.

Hopes and Realities: Closing the Gap between Women‘s Aspirations and Their Reproductive Experiences. Alan Guttmacher Institute, New York, 1995.

 

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