16. Juni 2025   Themen

Interview des russischen Botschafters in Deutschland Sergei Netschajew dem Overton Magazin

Aktuelle Beiträge des Botschafters

 

Über russische Vertreter wird viel gesprochen. Mit ihnen spricht man jedoch selten. Wie sehen russischen Offizielle die angespannte Situation zwischen Deutschland und Russland heute?

 

Roberto De Lapuente und Valeri Schiller haben mit Sergei Netschajew, dem russischen Botschafter in Berlin, gesprochen.

 

 

De Lapuente: Herr Botschafter, wie beurteilen Sie das derzeitige deutsch-russische Verhältnis, das sich – so kann man wohl sagen – seit Beginn des Krieges auf einem historischen Tiefpunkt befindet?

 

Netschajew: Ja, Sie haben vollkommen Recht: Die deutsch-russischen Beziehungen befinden sich auf dem Nullpunkt. Es ist wirklich enttäuschend, dass es keinen politischen Dialog mehr gibt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit unserer Länder, die früher auf der Prioritätenliste der beiden Nationen ganz oben stand, ist drastisch zusammengeschrumpft. Das ist sehr schade. Wir unsererseits haben allerdings keine einzige Vereinbarung, auch kein einziges Abkommen gestrichen.

Denn wir sind der Meinung, dass ein Dialog unter allen Umständen notwendig ist. Und wir würden ihn gerne fortsetzen. Wir sind grundsätzlich dagegen, die Brücken abzubrechen. Zusammen mit Deutschland haben wir seit den Siebzigerjahren eine strategische Partnerschaft aufgebaut. Mehr noch, ich würde sagen: diese Partnerschaft und dieses Netzwerk mit Deutschland waren absolut einmalig. Es ist vielleicht etwas hochgegriffen, aber ich möchte sagen, dass kein anderes westliches Land von der Annäherung erst zur Sowjetunion, danach zu Russland, so stark profitierte wie die Bundesrepublik. Das betrifft nicht nur Energieträger und Rohstoffe. Insgesamt mehr als 6.300 deutsche Unternehmen waren auf dem russischen Markt tätig. Doch auch trotz der Annährung wurden unsere Sicherheitsinteressen nie richtig berücksichtigt. Der Westen hat sie einfach ignoriert.

 

»Wir haben hier in Deutschland 700.000 Tote in Gräbern liegen«

 

De Lapuente: Russland spricht von einer »militärischen Spezialoperation«, während die internationale Gemeinschaft von einem Angriffskrieg gegen die Ukraine spricht. Im Westen sagt man, dass »Spezialoperation« ein Propagandabegriff sei – hält man in Russland »den Angriffskrieg« auch für einen Propagandabegriff?

 

Netschajew: Es ist nicht die „internationale Gemeinschaft“, die diesen Begriff gebraucht, sondern einige westliche Staaten. Außerdem waren und sind unsere ehemaligen Partner im Westen stark an der Entwicklung der Situation in der Ukraine beteiligt. Erinnern wir uns an die Unterstützung der Maidan-Bewegung 2013, des Staatsstreichs 2014, des Drangs Kiews in die NATO, der Aufheizung des russophoben Klimas in der Ukraine. Dann wurden auch die Minsker Vereinbarungen aus dem Jahre 2015 von der ukrainischen Seite auf Eis gelegt, was vom Westen geduldet wurde.

 

De Lapuente: In Westeuropa wird behauptet, dass Russland nach der Ukraine weitere Länder ins Visier nehmen wird. Auf dieser Behauptung gründet die Aufrüstung Europas. Herr Botschafter, müssen wir uns vor Russland fürchten?

 

Netschajew: Furcht ist nicht nötig! Man muss doch diese eine Frage stellen: Wozu sollten wir das tun? Das haben wir schon mehrmals erklärt – auch auf höchster Ebene. Präsident Putin hat mehrmals betont, dass solche Behauptungen absurd sind. Wir wollen keinen Krieg mit der NATO oder einem ihrer Mitgliedsstaaten. Diese militaristische Hysterie ist ein Produkt antirussischer Stimmungen und macht einen sehr schlechten Eindruck. Jetzt heißt es oft, dass Deutschland unbedingt bis zum Jahr 2029 oder 2030 zum Krieg gegen Russland vorbereitet sein muss. Solche Gedankengänge sind nicht ungefährlich. Das ist ein Weg in eine Sackgasse.

 

Schiller: Gibt es aus Ihrer Sicht noch Möglichkeiten, dass Russen und Deutsche, Deutsche und Russen, doch wieder zueinanderfinden?

 

Netschajew: Ich glaube, dass eine Möglichkeit für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland in der Zukunft sehr wohl besteht. Wir verschwinden nicht aus Europa – weder Deutschland noch Russland. Wir haben viele gemeinsame Wurzeln, eine gemeinsame Zivilisation, eine gemeinsame 1000-jährige Geschichte. Es gibt viele Annäherungspunkte. Aber selbstverständlich muss man auch auf die Lebensinteressen der Russischen Föderation eingehen. Wir haben den Eindruck, dass es in Deutschland wieder häufiger Stimmen gibt, die die Normalisierung der bilateralen Beziehungen mit Russland fordern. Das macht noch mehr Hoffnung.

 

»Deutschland versorgt unsere Kriegsgräber – einige andere Nachbarstaaten aber nicht«

 

De Lapuente: Wie bewerten Sie die Entscheidung, keine offiziellen russischen Vertreter zu den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Kriegsendes in Berlin einzuladen – dies insbesondere vor dem Hintergrund des enormen Blutzolls der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg?

 

Netschajew: Das ist alles sehr bedauerlich, denn wir haben hier in Deutschland mehr als 700.000 Tote in Gräbern auf deutschem Boden liegen: im Westen – mehr KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, im Osten sind es mehrheitlich Kampfverluste. Insgesamt sind es etwa 4.300 Grabstätten, die auf alle deutschen Bundesländer verteilt sind. Diese sind normalerweise öffentlich zugänglich – auch für unsere Landsleute. Es gehört zu unserer Pflicht, die Toten, die Opfer des Nationalsozialismus, zu ehren und ihrer zu gedenken. Dies ist unsere Tradition – und das seit vielen Jahren. Diese Verbote und Einschränkungen, auch für Symbole des Sieges, machen wirklich einen sehr schlechten Eindruck. Ganz zu schweigen von einigen Vorfällen: wie zum Beispiel auf dem ehemaligen SS-Schießplatz in Herbertshausen der KZ-Gedenkstätte Dachau, wo russische und belarussische Delegationen vor kurzem Kränze niedergelegt haben. Dort wurden einst tausende sowjetische Häftlinge kaltblütig erschossen. Wir haben nun erfahren, dass die Schleifen der Kränze in Farben der Staatsflaggen abgeschnitten und entfernt wurden. Dieses Vorgehen war von der Leitung der Gedenkstätte selbst beschlossen worden. Das ist natürlich sehr traurig und empörend – ich würde sagen, ich könnte mich nicht an einen ähnlichen Fall der Schändung in der Vergangenheit erinnern.

 

De Lapuente: Zu solchen Vorfällen kam es aber nicht überall …

 

Netschajew: Ich danke den kommunalen Organen für die Pflege und die Versorgung der sowjetischen Kriegsgräber ausdrücklich. Deutschland kommt der Versorgung der Gräber nach, im Unterschied zum Beispiel zu einigen Nachbarstaaten, in denen unsere Denkmäler vernichtet werden. Auch danke ich den vielen deutschen Bürgern, die nicht gleichgültig sind und die die Erinnerung aufrechterhalten.

 

Schiller: Aber wie soll es in der Ukraine jetzt weitergehen?

 

Netschajew: Wir wollen einen dauerhaften und langfristigen Frieden mit der Ukraine abschließen – unter der Bedingung, dass die Kernursachen des Konflikts beseitigt werden. Es geht hier in erster Linie darum, dass die Ukraine keine Bedrohung für Russlands Sicherheit darstellen soll, also dass sie entmilitarisiert wird und auf keinen Fall die NATO-Mitgliedschaft anstrebt. Wichtig ist auch die Beseitigung der Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung. Das würde den Weg für einen stabilen Frieden eröffnen. Wir waren von Anfang an dafür, diesen Konflikt auf friedliche Weise zu lösen. Denken Sie an Istanbul im Frühjahr 2022: Wir haben damals zugestimmt, auf dieser Grundlage weiter zu verhandeln. Aber einige westeuropäische Politiker haben es der Ukraine nicht erlaubt, einen von Kiew bereits paraphierten Friedensvertrag zu unterzeichnen. Das war schade. Aber wir sind weiterhin dafür, einen Weg zum dauerhaften Frieden zu finden. Unsere Vorschläge hat die ukrainische Seite am 2. Juni in Istanbul bekommen.

 

»Trumps Äußerungen sind oft zu emotional«

 

De Lapuente: Wie nimmt man in Russland die Rüstungspläne Europas und wie nimmt man Deutschlands Absicht wahr, fünf Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes in die Rüstung zu stecken?

 

 

 

 

 

 

 

Netschajew: Diese Pläne sind besorgniserregend. Wozu brauchen das die Europäer? Der amerikanische Präsident Donald Trump hat einen anderen Weg gefunden: Er will auf unsere prinzipiellen Interessen eingehen und legt sein Hauptaugenmerk darauf. Er agiert anders als die Europäer, die Russland eine strategische Niederlage beibringen wollen. Warum sie das tun: Das ist wohl eine Frage, die nicht an mich gerichtet sein sollte.

 

De Lapuente: Sie haben Donald Trump angesprochen. Wie nehmen Sie als Diplomat die oft sehr undiplomatische Art des US-Präsidenten wahr? Er nannte den Präsidenten Ihres Landes neulich einen Verrückten. Ist das wirklich ein so vertrauensvoller Umgangston?

 

Netschajew: Manchmal sind diese Äußerungen sicherlich zu emotional aufgeladen. Aber wichtig ist, dass Donald Trump und seine Regierung absolut anders und neu an die Sache herangehen. Grundsätzlich nimmt Präsident Trump Rücksicht auf unsere Interessen und natürlich auch auf die der Vereinigten Staaten. So können wir im Dialog bleiben. Man muss verstehen, wie wichtig das ist. Denn in den letzten vier Jahren hatten wir praktisch gar keinen Kontakt zur damaligen US-Administration.

 

Schiller: Sie sprachen vorhin die russischen Sicherheitsinteressen an. Und viele russische Offizielle betonen ja, dass der Westen Russlands Sicherheitsinteressen ignoriert habe. Was wären aus russischer Sicht realistische Sicherheitsgarantien gewesen, die diesen Krieg hätten verhindern können?

 

Netschajew: Die OSZE, die ihrem Namen nach für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zuständig ist, hat in ihren politischen Deklarationen mehrmals festgehalten, dass die Sicherheit eines Staates nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten ausgebaut werden darf. Die Sicherheitsgarantien müssen also ungeteilt und gleich für alle sein. Dies haben alle Staats- und Regierungschefs akzeptiert und unterzeichnet. Deswegen war es für uns inakzeptabel, dass die NATO sich in Richtung Russland ständig erweiterte und die neuen Gebiete militärisch und technisch erschloss. Uns wurde glaubhaft signalisiert, dass nun auch für die Ukraine militärisch-technische Erschließungen vorbereitet würden. Unsere Warnungen betreffend die Folgen einer solchen Politik wollte niemand hören. Aber wir müssen jetzt endlich über einen langfristigen Frieden nachdenken.

 

»Wir haben kein Unternehmen ausgewiesen«

 

De Lapuente: Welche realen Auswirkungen spüren Sie in Russland durch die europäischen Sanktionen – wirtschaftlich wie gesellschaftlich? Einige wenige Beobachter in Deutschland behaupten, die Sanktionen hätten Russland nicht geschadet, vielleicht sogar im Gegenteil. Führt diese Einschätzung zu weit?

 

Netschajew: Wir sind natürlich grundsätzlich gegen alle illegitimen Sanktionen. Speziell gegen jene, die sich gegen uns richten. Laut Angaben der russischen Regierung wurden insgesamt ca. 30.000 Sanktionen gegen uns verhängt. Natürlich kann das nicht spurlos an einigen Wirtschaftszweigen und Produktionen vorbeiziehen. Aber wahr ist auch, dass sich unsere Wirtschaft sehr schnell angepasst und neue Nischen gefunden hat. Auch weil einige ausländischen Unternehmen solche Nischen nach ihrem Abgang hinterlassen haben. Übrigens haben auch chinesische, indische, nahöstliche und südostasiatische Unternehmen einen Platz in unserer Wirtschaft gefunden. Deswegen sind diese Sanktionen für unsere Wirtschaft nicht so gravierend. Sie sind spürbar – aber wir können sie bewältigen.

 

Schiller: Mehr oder weniger leicht oder schwer bewältigen?

 

Netschajew: Es gibt sogar Verantwortliche innerhalb unserer Wirtschaft, die hoffen, dass die Sanktionen doch nicht so schnell aufhoben werden, damit wir unsere wirtschaftliche Souveränität beibehalten können. Einige Unternehmen aus dem Westen haben unseren Markt 2022 so schnell verlassen, dass sie gar nicht an das Personal oder an die Lieferketten dachten. Damit brachen einige Sparten ein. Ich betone: Wir haben niemanden ausgewiesen. Kein einziges ausländisches Unternehmen haben wir auf unsere Initiative hin gesperrt bzw. ausgewiesen. Alle gingen selbst. Manche in regelrechter Panik. Ob die westlichen Unternehmen irgendwann zurückkommen können und dann auch wieder einen Platz auf unserem Markt finden, ist allerdings fraglich, denn die Konkurrenz ist nun auf unserem heimischen Markt größer geworden. Einige deutsche Unternehmen sind in Russland noch aktiv. Sie scheinen sehr zufrieden zu sein.

 

De Lapuente: Woran machen Sie das fest?

 

Netschajew: Die besten Produktionsbedingungen für Business-Leute waren vorher für deutsche Unternehmen vorgesehen. Einige deutsche Unternehmen hatten sogar sogenannte Sonderverträge bekommen, die ausländische Unternehmer mit unseren nationalen Unternehmern gleichstellen. Viele von denen, die auf dem russischen Markt geblieben sind, genießen diese Vorzüge auch heute noch. Nochmals: Wir haben niemanden ausgewiesen. Wer will, der bleibt.

 

»Auf dem kulturellen Sektor verspüren wir keine Isolation«

 

De Lapuente: In Deutschland wird zunehmend (und auch oft reflexhaft) über russische Propaganda und Desinformation gesprochen – insbesondere in sozialen Netzwerken. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf?

 

Netschajew: Es gibt unterschiedliche Sichtweisen und Blickwinkel auf die Geschehnisse. Wir halten unsere Sichtweise für objektiv und begründet. Doch sie ist im Westen heutzutage nicht willkommen, daher werden unsere Massenmedien hier gesperrt, russischen Korrespondenten werden ihre Akkreditierungen entzogen. Das hat mit einer freien Meinungsäußerung und Berichterstattung wenig zu tun. Dass sich unsere Sichtweise von der westlichen unterscheidet, liegt auf der Hand.

 

De Lapuente: Viele westliche Institutionen haben kulturelle Kooperationen mit Russland beendet. Wie erleben Sie diese Isolation im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich – und glauben Sie, dass ein langfristiger kultureller Bruch zwischen Russland und Europa unausweichlich ist?

 

Netschajew: Was die Wissenschaft anbelangt war die Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland ebenfalls einmalig. Es gab zwischen den russischen und deutschen Universitäten ungefähr 400 partnerschaftliche Verträge. Leider wurde das alles auf Eis gelegt – nicht von uns wohlgemerkt. Auf dem kulturellen Sektor verspüren wir jedoch keine Isolation. Unsere Künstler und unsere führenden Schauspieler sind weiterhin begehrt – und die Werke unserer Schriftsteller und Komponisten werden weltweit weiter aufgeführt. Soviel ich weiß, auch in Deutschland. Viele westliche Institutionen haben zwar kulturelle Kooperationen mit Russland beendet. Aber die russische Kultur ist ein Weltkulturerbe, man kann es nicht einfach zur Seite drängen. Es gibt viele Kenner der russischen Kultur in Deutschland – und andersherum auch viele russische Kenner, die die deutsche Kultur sehr schätzen.

 

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