03. Januar 2016   Themen

Alt-Nazis rein Linke raus

Erinnerung an den Radikalen-Erlass von 1972

Ein Jahrzehnt lang ebbten die Wogen der Erregung über den Radikalenerlass des Jahres 1972 nicht ab. Vordergründig zielte er darauf, den verschwindend kleinen Kreis von DKP-Mitgliedern aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten. Doch fühlte sich nicht nur eine Minderheit, sondern mit ihr ein Großteil der Protestgeneration getroffen und ausgegrenzt.

So überschattete der Streit um die "Berufsverbote" die Regierungszeit der sozialliberalen Koalition bis 1982. Bis Ende der achtziger Jahre mussten sich 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst auf ihre Gesinnung überprüfen lassen, rund 10.000 "Berufsverbote" wurden ausgesprochen. Obwohl er beteuert hatte, seine Regierung wolle sich den kritischen jungen Leuten öffnen, hatte Willy Brandt dem Erlass nach langem Zaudern zugestimmt. Ein großer Fehler, wie er später einräumte.

Viel ist über den Radikalenerlass geschrieben worden. Der junge Historiker Dominik Rigoll ist ihm nun auf unkonventionelle Weise noch einmal nachgegangen. Ihn beschäftigt weniger, wer welche Rolle spielte, warum Brandt mitmachte oder was aus der Berufsverbotspraxis wurde – Rigoll sucht nach den mentalen Wurzeln des Radikalenerlasses in den fünfziger Jahren.

Dabei war sein Buch Staatsschutz in Westdeutschland, das jetzt erschienen ist, ganz anders geplant. Zunächst recherchierte Rigoll im Koblenzer Bundesarchiv, wie die Innenministerkonferenz den Erlass auf den Weg brachte und wie es zu dem breiten Konsens zwischen Heinz Ruhnau (Hamburgs SPD-Innensenator), Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sowie dem Mainzer Ministerpräsidenten Helmut Kohl (CDU) kam, dem der Kanzler dann zustimmte. Aber, sagt Rigoll im Gespräch: "Ich stand vor den siebziger Jahren und habe sie einfach nicht verstanden." Was, fragte er sich, steckte hinter dem Konsens?

Am 10. Januar 1972 verkündete Genscher, man sei sich einig, die DKP verfolge "eindeutig verfassungsfeindliche Ziele"; für die NPD gelte das auch. Da beide Parteien nicht verboten waren, stritten die Juristen, ob man sie als Verfassungsfeinde behandeln dürfe. Am 28. Januar schließlich wurde der Zugang zum Staatsdienst neu geregelt. Der Kompromiss: Die bloße Parteimitgliedschaft sollte nicht ausreichen, es müsse eine "Einzelfallprüfung" geben. Die Nichteinstellung allerdings, so war der Erlass zu verstehen, solle zum Regelfall werden.
Dominik Rigoll

geboren 1975, ist Historiker an der Universität Jena. Sein Buch Staatsschutz in Westdeutschland erschien im Göttinger Wallstein Verlag (524 S., 39,90 €).

Bisher hatte man das Thema immer nur vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und des Konfliktes zwischen BRD und DDR betrachtet. Rigoll nun entschloss sich zu einer, wie er sagt, "Re-Lektüre" der Jahre 1945 bis 1972. Er nahm sich also die unmittelbare Nachkriegszeit vor – genauer die "Berufsverbote", die "im Zuge der Entnazifizierung gegen ehemalige Bedienstete des Dritten Reiches und andere NS-Funktionseliten ausgesprochen", aber bereits unter Adenauer wieder aufgehoben wurden – durch einen Erlass vom 19. September 1950. Rigolls Kunstgriff besteht darin, sich in die Perspektive der "45er" zu versetzen, die als ehemalige NS-Verfolgte oder Angehörige des Widerstands während der unmittelbaren Nachkriegszeit in Spitzenpositionen aufrückten. Nun mussten sie miterleben, wie sämtliche "Funktionseliten unterhalb der Reichsführer-Ebene" rehabilitiert wurden. Im Handumdrehen verdrängten diese "49er" die "45er".

Für Rigoll ist das die entscheidende Zäsur. Der Adenauer-Erlass von 1950 unterstellte, dass die alten Nazifunktionäre politisch und fachlich geeignet seien, ihren Dienst in der neuen Demokratie zu leisten. Fernzuhalten galt es von nun an stattdessen die KPD, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sowie zwei neonazistische Splitterparteien. Wie aber konnte aus dem Blickfeld verschwinden, dass es ebenjene "49er" gewesen waren, die in den dreißiger Jahren geholfen hatten, "die Erste Republik in ein Drittes Reich zu verwandeln"?

Ein "antitotalitäres Narrativ" habe das "antifaschistische Narrativ" von 1945 ersetzt, lautet Rigolls These. Die Rolle dieser beiden "Erzählungen" in den folgenden Jahrzehnten bildet den Kern seiner Untersuchung.

Der Wechsel von der einen zur anderen sei dabei keineswegs reibungslos verlaufen: Zu der Minorität, die dem plötzlichen Schwenk im Jahr 1950 widersprach, zählten Gustav Heinemann (Innenminister unter Adenauer), die Publizisten Walter Dirks und Eugen Kogon und der Bundestagsabgeordnete Otto Heinrich Greve (SPD). Heinemann schied verärgert aus dem Kabinett aus, weil seine Sorge in den Wind geschlagen wurde, die Rückkehr der alten Eliten gefährde den jungen Staat.

Historische Parallelen zwischen 1950 und 1972 zu ziehen, zwischen Adenauer- und Radikalenerlass, wurde lange als unzulässig empfunden, sagt Rigoll. Denn nach offizieller Lesart waren DKP-Mitglieder das "zeitgenössische Pendant" jener KPDler, die im Verein mit den Nationalsozialisten der Weimarer Demokratie den Todesstoß versetzt hatten. So sah der Konsens seit 1950 aus. Die Rehabilitierung der Funktionseliten, die den Aufstieg Hitlers zu verantworten und den NS-Staat getragen hatten, sei eine enorme "Verdrängungsleistung" gewesen. Mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen. Belastete und "Mitläufer" saßen alsbald wieder in sämtlichen Institutionen, in Polizei und Justiz bis hin zum Bundesgerichtshof, und sie dachten natürlich anders über potenzielle Gefahren für Staat und Demokratie als jene, die unter den Nazis gelitten hatten. Die Verfolgung von Kommunisten sei in der Bundesrepublik eben nicht nur wegen des Konflikts mit der DDR heftiger ausgefallen als in anderen Staaten – sondern auch, weil ein Großteil der Verantwortlichen ein starkes Eigeninteresse daran gehabt habe: Die einzige politische Gruppe, die weiterhin "in aller Öffentlichkeit aus der NS-Belastung eines Beamten oder Richters dessen mangelnde Eignung ableitete", sollte mundtot gemacht werden.

Mehr ... Eine Geschichte integrer Juristen und schrecklicher Juristen

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