12. Juli 2017   Themen

„WOLLT IHR TOTE IHR CHAOTEN?“ Veröffentlicht von LZ ⋅ 10. Juli 2017 ⋅ Ein Kommentar

Veröffentlicht von LZ ⋅ 10. Juli 2017    ⋅ Ein Kommentar

von Karl Plumba – http://lowerclassmag.com

So titelte die BILD-Zeitung, nachdem die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 zuende gingen. Jetzt, wo die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg zum Ende kommen, überschlägt sich Springer und der Rest der reaktionären Presse erneut. Es ist von „Blankem Terror“, „nie dagewesener Gewalt“ und sogar von „SA-Wiedergängern“ die Rede. Merkel persönlich verspricht Hilfe für die „Gewaltopfer“.

Die Vorgeschichte

Aber was war eigentlich passiert?
Schon am zweiten Juli zeigten G20-Einsatzleiter Hartmund „der Hund“ Dudde und Hamburgs Innensenator Andy „der Lauch“ Grote, was von ihnen zu erwarten ist. Der Aufbau des gerichtlich erstrittenen Übernachtungs – und Protestcamp wurde erst stundenlang von der Polizei behindert und schließlich angegriffen. Die Polizei war der Meinung, ein Schlaflager geht gar nicht. Es kam also schon am Sonntag zum ersten widerrechtlichen Angriff der Polizei auf Protestierende, es gab zahlreiche Verletzte und Verhaftungen. Der Anwalt der Campstruktur sprach, zu Recht, von einem Putsch der Exekutive gegen die Judikative. Die Reaktionen aus von den Organisator*innen der Proteste waren überlegt und entschlossen zugleich, es wurde ein Ultimatum gestellt, nachdem öffentliche Plätze besetzt werden sollte, sofern die Polizei weiterhin stehendes Recht missachten sollte. Grote beharrte weiter auf seiner – illegalen – Position und wollte Schlaflager nicht zulassen, letztendlich boten Kirchen ihre Gelände zum Übernachten an und auch die Protestcamps durften schließlich eine festgelegte Anzahl von „Schlafzelten“ aufbauen.
Grote und Dudde erlitten ihre erste Niederlage, die öffentliche Meinung war gegen sie aber vorallem ist die Taktik der Polizei das erste Mal deutlich klar geworden: Jeden Protest unterbinden, egal ob friedlich oder nicht, mit maximaler Gewalt und jenseits jeder Legalität.

Wellcome to Hell

Wenn auch zwischendurch noch einiges passiert ist, machen wir einen Sprung zum Donnerstag Abend. Mit „Wellcome to Hell“ stand die erste Großdemo des Protestwochenendes an und bereits im Voraus malten Grote, Dudde und die Hofpresse das Bild von wilden Horden, die keine politischen Ziele hätten und lediglich kommen würde, um Hamburg in Schutt und Asche zu legen.

Schon zur Auftaktkundgebung gegen 16:00 versammelten sich viele tausend Menschen am Fischmarkt, pünktlich zu 19:00 formierte sich der Frontblock. „Wellcome to Hell“ stand auf diversen Transparenten und dahinter standen Tausende in schwarz, vermummt und friedlich. Es gab keine Flaschenwürfe, kein Feuerwerk. Nichts. Lediglich Tüchern vor den Gesichtern. Als ein einzelner Betrunkener seine Bierflasche warf, wurde dieser sogar vom Block ausgeschlossen. Hinter dem Frontblock warteten noch viele Tausend mehr, um endlich loszugehen und das Protestwochenende zu beginnen. Insgesammt waren zwischen 20.000 und 25.000 Menschen gekommen, doch die Polizei hatte andere Pläne. Schon im Vorraus gab es viele verwirrte Gesicher, da die Versammlungsbehörde nichteinmal einen Auflagenbescheid ausstellte. Die Vermutung, die Demo würde nicht loslaufen dürfen, egal was passiert, war in aller Munde.
Doch was dann kam, überraschte selbst erfahrene Demogänger*innen und auch uns machte es sprachlos. Zuerst gab die Polizei sich diskussionsbereit, blockierte den Demozug mit vier Wasserwerfern, Seitenspalier und zig Hundertschaften vor der Demospitze. „Legt eure Vermummung ab und ihr dürft los“ war die Ansage und ein Großteil des Blocks kam dem nach. Dennoch durfte die Demo nicht los, statt dessen griffen die Seitespaliere und Wasserwerfer unvermittelt und ohne Vorwarnung an. Sie prügelten, traten, zerrten, versprühten Pfefferspray, schubsten Menschen von Mauern oder zerrte sie von ihnen herunter. Die vermummten und behelmten Hundert gaben sich gänzlich ihrer Gewaltorgie hin und es kann ohne Übertreibung gesagt werden: Sie nahmen dabei Tote billigend in Kauf.


Nach der chaotischen und brutalen Zerschlagung kam es in der Gegend rund um den Fischmarkt immer wieder zu Jagdszenen, bei denen sich erstmals Menschen zur Wehr setzten. Es flogen Flaschen und Steine auf die wild gewordenen Schlägertrupps. Sich gegen diese Banden zu wehren konnte also bereits am Donnerstag Abend als legitime Notwehrsituation beschreiben.
Interessanterweise, schien der Plan der Einsatzleitung hier zuende zu sein. Es gab offensichtlich keinerlei Vorkehrungen, die zerschlagene Demonstration „kontrolliert abfließen“ zu lassen oder ähnliches und so waren die größten Folgen der Zerschlagung hunderte Verletzte, davon mindestens drei Schwerverletzte und ein/e Demonstrant*in schwebte in Lebensgefahr. Außerdem ergossen sich Zehntausende in die Hamburger Innenstadt und die Polizei verlor die Kontrolle.
In der Nacht kam es zu kleineren Scharmützeln überall in der Innenstadt, die ersten Scheiben gingen zu Bruch und die ersten Autos brannten, für die Brutalität des Angriffs auf die Demonstration fielen die Auseinandersetzungen aber klein aus, eine großangelegte, militante Antwort blieb vorerst aus.

Color the „Red Zone“

Es stand schließlich noch der Freitag vor der Tür mit diversen Blockadeversuchen vom Hafen, der „Red Zone“ und der Elbphilharmonie.
Dazu sammelten sich am frühen Freitag Morgen überall in der Stadt Finger, die entschlossen und friedlich loszogen, um zu blockieren. Doch erneut hatte die Polizei keinerlei Interesse, irgendeine Form von Protest zugelassen. Selbst außerhalb der „Red Zone“ wurde jeder Protest unterbunden und erneut wurden Menschen rücksichtslos zusammengeschlagen. Den Finger aus dem Altona-Camp traf die entfesselte Polizeigewalt dabei besonders hart. Bei der Flucht über ein Gewerbegelände kletterten diverse Demonstrant*innen über ein Gerüst, um vor den heranstürmenden Schlägertrupps zu entkommen. Diese drückten den Rest von unten gegen das Gerüst und dieses brach zusammen. Mindestens 15 Menschen brachen sich Arme, Beine und Sprunggelenke.

Am Freitag Nachmittag sammelten sich erneut Tausende zur „Zweiten Welle“ am Millerntor. Ziel war die Blockade der Elbphilharmonie, wo sich die Staatschef am Abend – ungestört von lästigen Protesten – etwas Kultur gönnen wollten, um sich von den anstrengenden Reden und Fototerminen zu erholen. Wieder kam es zu Jagdszenen auf Demonstranten, wieder wurden Menschen mit Tonfas auf die Köpfe geschlagen, Anhänge und Mauern heruntergeschubbst und anderweitig misshandelt.

Für uns neu war, dass es nicht einzelne Hundertschaften waren, die durch besondere Brutalität oder besonderen Elan beim Prügeln herausstachen. Alle eingesetzten Polizeikräfte schienen wie im Rausch, geiferten nach Gewalt, beleidigten wild Demonstrant*innen und Pressevertreter*innen.
Selbst Hooligans bei einem Wald – oder Wiesenmatch sind disziplinierter.
Ab diesem Zeitpunkt kam es erneut zu vereinzelten militanten Auseinandersetzungen. Organisierte Gruppen griffen die Polizei an und hielten sie so ab, noch mehr Verletzte zu produzieren, ermöglichten den anderen den Rückzug. Von Massenmilitanz kann auch hier nicht gesprochen werden, aber es war entschlossener Widerstand gegen einen enthemmten Polizeistaat.
Das alles geschah vor Freitag Nacht, vor den großen Ausschreitungen auf der Schanze, zu denen wir gleich noch kommen, vor den Plünderungen und dem SEK-Einsatz.
Waren es also die völlig enthemmten Einsatzkräfte, die medial als „SA-Wiedergänger“ bezeichnet wurden? War es ihre „nie dagewesene Gewalt“, ihr „blanker Terror“, mit dem nun Zeitungen Titelseiten bedrucken? Sind es die Opfer der Polizeigewalt, denen Merkel Hilfe zusagte?

Wir jedenfalls stellen die BILD-Frage von 2007 nun an Dudde, Grote und jeden EinzelnEn Polizist*in, der an diesem Tag im Einsatz war: Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?

Die Auseinandersetzungen in der Schanze
Eine anfänglich gut organisierte Antwort gab es am Freitag Abend in der Sternschanze und am Pferdemarkt. Dort war die Polizei wieder mit mehreren Wasserwerfern und behelmten und vermummten Einsatzhundertschaften aufgezogen und jagdten Menschen durch Parks und Straßen.
Daraufhin errichteten vermummte Militante Barrikaden und griffen die Hundertschaften und die Wasserwerfer an. Entschlossen, organisiert und immer wieder. So wurde die Polizei zuerst aus der Schanze getrieben und später auch an den äußersten Rand des Pferdemarkt gedrängt. Die zurückerobeten Straßen wurden mit weiteren Barrikaden gesichert und auch gegen anrückende Wasserwerfer verteidigt. Diese Entschlossenheit schien auch die Hamburger Polizei zu irritieren, sie versuchte immer und immer wieder mit den Wasserwerfern die erkämpften Straßen zurückzuerobern, manchmal schickten sie einige Hundertschaften, deren lautes Geschrei auch niemanden mehr beeindruckte und die sich so im Stein- und Flaschenhagel zurückziehen mussten.
Wenig später kam es dann zu den ersten Plünderungen. Auch diese waren anfänglich gezielt: REWE, Budnikowsky, eine Boutique, ein Carhart-Geschäft und ein O2-Laden. Nichts davon „alteingesessen“ in der Schanze, jedes einzelne Teil von Gentrifizierung und Verdrängung. Jedoch lief ab diesem Moment auch einiges schief.
 Anstatt, wie in anderen Ländern und auch in Deutschland früher üblich, zuerst den Alkohol zu vernichten, wurde dieser wie alles andere geplündert und getrunken. Mit dem kostenlosen Zugang zu viel und hartem Alkohol änderte sich auch das Klientel im Kiez. Die organiserten Gruppen zogen sich zurück und die Straße gehörte hauptsächlich Schaulustigen, Machos und Betrunkenen. Die Angriffe auf die Polizei wurden unkoordinierter, waghalsiger und sinnloser, die Sprache wurde rauer und es kam zu Übergriffen gegen Pressevertreter.

Dennoch müssen einige Sachen dringend gesagt werden:
Bewaffnete SEK-Einheiten waren übrigens nicht erst Freitagnacht im Einsatz:

Erstens: Die Polizei hätte, wenn sie es denn gewollt hätte, jeder Zeit die Kontrolle über die Schanze zurückgewinnen können, ohne SEK und ohne Schusswaffen. Der gesamte Bereich rund um die Rote Flora war nicht umkämpft. Es waren zwar viele Menschen auf den Straßen, sie feierten jedoch eher und saßen beisammen, hatten Spaß, tanzten zu Musik aus Fenstern und ließen den Tag ausklingen. Das Potential, den gesamten Kiez gegen die Polizei zu verteidigen gab es schlicht nicht.
Die Polizei hat also ganz bewusst die Lage immer weiter eskalieren lassen und zugesehen, wie die Barrikaden im Kiez langsam abbrennen und die Betrunkenen nun auch begannen, Kiez-Originale anzugreifen und wahllos Scheiben einzuschmeißen.
Der SEK-Einsatz am Abend war vollkommen unnötig und unverhältnismäßig, nicht ohne Grund „bat“ die Polizei in der Nacht Journalist*innen auf, keine Bilder und Videos vom Einsatz zu veröffentlichen. Mehrere Kolleg*innen berichteten von auf sie gerichteten Gewehren durch SEK-Leute, die dieser „Bitte“ nachdruck verliehen.

Zweitens: Von „Bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ oder gar „Bildern wie aus Aleppo“ zu sprechen ist nicht nur absurd, sondern verhöhnt auch alle Opfer des Bürgerkriegs in Syrien – und allen anderen Kriegen auf der Welt. Diejenigen, die die solche Bilder produzieren, haben in Hamburg in den Messehallen getagt, geschützt von 25.000 Polizist*innen.

Drittens: Kein Grund sich zu Distanzieren! Immer mehr linke Medien und Einzelpersonen sind uns seit Samstag morgen aufgefallen, denen es gar nicht schnell genug gehen konnte, die Ausschreitungen in der Schanze zu verurteilen. Was gibt es dafür für Gründe? Alle, die ihr demokratisches Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit warnehmen wollten, wurden von den Einsatzkräften behandelt wie Tiere, ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben waren oft unwichtger, als die Gewaltgeilheit der Knüppelkollonnen. Diejenigen, die am Abend die Auseinandersetzungen um die Schanze begannen, waren Polizekräfte, die immer noch nicht genug hatten. Ihnen wurde ein Riegel vorgeschoben. Organisierte Militante haben entschlossen und kooridniert dafür gesorgt, dass Duddes Schlägertrupps nicht noch mehr Menschen verletzen können, ohne Konsequenzen zu fürchten. Seit wann ist es notwendig für Linke, sich von militantem Protest und legitimer Selbstverteidigung zu distanzieren?
Natürlich kann jetzt gesagt werden, dass das auf den weiteren Verlauf der Nacht nicht zutrifft, aber stimmt das? Klar, die Menschen auf den Straßen waren nicht organisiert. Vermutlich waren viele von ihnen auch nicht besonders politisch und offensichtlich ist bei den Krawallen auch einiges unschönes passiert. Das Abfackeln von Kleinwägen in Wohnstraßen etwa erscheint uns ungefähr so sinnvoll wie ähnliche Aktivitäten bei anderen Verkehrsmitteln. Dennoch ist ihr Zorn und ihr Hass auf das Bestehende, auf diejenigen, die sie aus ihren Kiezen drängen, die sie schikanieren und in Hamburg ein privates Stelldichein für 123 Millionen Euro für Kriegstreiber, Folterer und Mörder ausrichten, mehr als verständlich. Die Distanzierungen und Diffamierungen können wir getrost unseren Gegnern überlassen. Überzeugen tun wir damit sowieso niemanden, der jetzt über „SA-Wiedergänger“, „Linken-Terror“ und „neue Stufe der Gewalt“ schwadroniert. Unsere Aufgabe ist es zu überlegen, wie wir diese Menschen organisieren können, wie wir ihren Zorn und ihren Hass zu politischem Bewusstsein machen können.

#Fotos Willi Effenberger

http://lowerclassmag.com/2017/07/wollt-ihr-tote-ihr-chaoten/#more-4988

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