27. April 2019   Themen

Deutsche Traditionen: 100 Jahre Abschiebehaft in Bayern

100 Jahre?

Beitrag:

Thomas Nowotny
83071 Stephanskirchen, Deutschland

 

„Eine erste Abschiebehaft-Regelung wurde in Bayern 1919 während der Nachkriegswirren verabschiedet. Am 25. Mai 1919 verabschiedeten die Ministerien für Inneres und militärische Angelegenheiten die „Bekanntmachungen über Aufenthalts- und Zuzugsbeschränkungen“, die das geltende Fremdenrecht unter der Maßgabe einer Revolutionsprävention (unmittelbar nach Ende der Münchner Räterepublik) verschärften. Mit diesen Änderungen wurde der Grundstein für die heutige Abschiebehaftpraxis und das heutige Ausländerrecht gelegt.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Abschiebehaft

Eigentlich fühlt es sich doch an wie 1000 Jahre...

..dass die Regelungen (und die Beamten) aus dem „Tausendjährigen Reich“ nach 1945 nahtlos übernommen wurden, wie so viele Nazigesetze.

In der 1938 verabschiedeten „Ausländerpolizeiverordnung“ fand die bayrische Regelung im § 7 Eingang: „Der Ausländer ist (…) durch Anwendung unmittelbaren Zwanges aus dem Reichsgebiet abzuschieben, wenn er das Reichsgebiet nicht freiwillig verlässt oder wenn die Anwendung unmittelbaren Zwanges aus anderen Gründen geboten erscheint. Zur Sicherung der Abschiebung kann der Ausländer in Abschiebehaft genommen werden.“ Diese Regelung der Ausländerpolizeiverordnung galt in Westdeutschland unverändert bis 1965.

 

Von 1965 bis 2004 regelten die beiden Ausländergesetze die Abschiebehaft: Das Gesetz von 1965 in § 16 und das Gesetz von 1990 in § 57. Seit 2005 gilt in der Bundesrepublik Deutschland das Aufenthaltsgesetz. Darin regelt § 62 die Abschiebehaft.

...oder noch mehr?

Ein engagierter Anwalt aus Hannover, Peter Fahlbusch, hat einmal zusammengerechnet, wieviele Tage allein seine Mandanten unrechtmäßig in Abschiebehaft saßen: 22 077 Tage. Das sind, umgerechnet, mehr als 60 Jahre – allein die Klienten eines einzigen Anwalts wurden so lange vom Staat ihrer Freiheit beraubt. Wie viele es insgesamt gewesen sein mögen, weiß keiner. Der Staat führt vorsichtshalber keine Statistik darüber..

https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-abschiebung-abschiebehaft-1.4304734-2

Jetzt startet eine große Kampagne zum Thema „100 Jahre Abschiebehaft“. Vom 1.-14. Mai gibt es zwanzig Veranstaltungen in ganz Bayern (beginnend in Eichstätt, wo auch das Titelfoto entstand, copyright Bayerischer Rundfunk). Am 31.8.2019 ist eine bundesweite Kundgebung vor dem Abschiebeknast in Büren (NRW) mit anschließender Demonstration im nahen Paderborn geplant.

https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/tl_files/2019/Bilder/A-Haft%20klein2.jpg
https://abschiebehaftbayern.noblogs.org/

Die neueste Ausgabe des Magazins „Hinterland“ ist ganz diesem Thema gewidmet: http://www.hinterland-magazin.de/

Was der Abschiebedruck bei jungen Menschen anrichtet, beschreibt diese Reportage:

https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-04/asylpolitik-abschiebungen-fluechtlinge-afghanistan-asylantrag-schulabbruch-ausbildung/komplettansicht

Nun aber das Update zum letzten Deportationsflug nach Kabul, der 23. Sammelabschiebung, die am 24.4. in Düsseldorf startete und am 25.4. morgens in der afghanischen Hauptstadt landete. Nachdem zunächst von 30 Deportierten die Rede war, sprach das Bundesinnenministerium von 32 abgelehnten Asylbewerbern. Davon seien 18 Straftäter gewesen, 14 seien aus der Haft abgeschoben worden (darunter sind allerdings auch viele nicht aus Straf-, sondern aus Abschiebehaft „zugeführt“ worden). Beteiligt waren die Bundesländer Bayern (mindestens drei, s. unten), Baden-Württemberg (drei „Straftäter“), Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die beiden letztgenannten Länder haben erstmals einige Afghanen abschieben lassen, die nicht zu den Personengruppen der Straftäter, angeblichen Gefährder und sogenannten Identitätstäuscher gehören, wie Thomas Ruttig berichtet.

https://thruttig.wordpress.com/2019/04/25/23-sammelabschiebeflug-nach-afghanistan-mit-30-betroffenen-in-kabul-eingetroffen-wird-standig-aktualisiert/

Bayern verfolgt diese unselige Praxis von jeher und gibt sie auch unter dem Druck des kleinen Koalitionspartners Freie Wähler nicht auf. Der Bayerische Flüchtlingsrat nennt aktuelle Fälle:

„Herr A aus Günzburg, seit fast neun Jahren in Deutschland, hat gearbeitet, bis er ein Verbot der Ausländerbehörde bekam. Ehrenamtlich engagierte er sich in einem Verein, er war auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle. Seine Tazkira liegt der Behörde vor, im Mai sollte der von ihm beantragte Pass beim Konsulat abgeholt werden können. Sowohl in Günzburg als auch beim Verein COMMIT hat er Freunde gefunden, sein Engagement wird geschätzt. Gestern Mittag wurde er verhaftet und zum Sammel-Abschiebeflug gebracht. Ein junger Afghane aus dem Landkreis Wunsiedel wurde gestern früh verhaftet, er und seine afghanische Verlobte bereiteten die Heirat vor. Ein 21jähriger Afghane aus Oberbayern wurde abgeschoben, obwohl er krank und psychisch labil ist. Seine Freunde im Ort sind entsetzt und haben Angst, dass er sich in Kabul etwas antut.“

Stephan Theo Reichel, Kurator und  Geschäftsführer von matteo - Kirche und Asyl e.V., teilte heute früh mit:

„Liebe Engagierte,

der Flug vorgestern war wieder besonders skandalös. Ich habe Kontakt zu einem abgeschobenen jungen Mann aus Würzburg, dessen 'Begnadigung' Herrmann noch gestern wegen Zeitmangels (Ostern und Dienstreise) abgelehnt hat. Er hatte die Vorlage einfach verschlampt und wollte dann wohl den Flieger vollkriegen.

 

Von überall aus Bayern erreichen mich traurige Nachrichten von integrierten unbescholtenen jungen Männern, die gestern abgeschoben wurden, einer direkt vor der Hochzeit im Fichtelgebirge. 

 

Die Freien Wähler können sich trotz aller guten Absichten gegen Herrmann und seine AfD-nahe Politik nicht durchsetzen. Er macht weiter, was er will. 

 

Nun hören wir, dass die IOM - wohl aus Sicherheitsgründen- die bisher übliche Versorgung der Deportierten in Kabul einstellen musste. Alle 30 sitzen ohne ausreichend Geld, Betreuung und Obdach auf der Straße in einem der gefährlichsten Orte der Welt. Das war dem Innenminister in Berlin und München sicher bekannt.

 

Es ist unfassbar..., und wir werden uns an diese Verschiebung menschlicher und rechtlicher Maßstäbe nicht gewöhnen.“

 

Werden wir nicht.

 

Die Gesamtzahl der seit Dezember 2016 deportierten Afghanen erhöht sich mit dem letzten Flug auf 565.

 

Die Gesamtzahl all derer, die seit Dezember 2016 meine Petition unterstützen, beträgt am heutigen Abend 91.644 Menschen.

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