RND-Interview des russischen Botschafters in Deutschland Sergej Netschajew
Herr Netschajew, nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag des RND sagen 53 Prozent der Bundesbürger, sie hätten große Angst davor, dass es wegen des Russland-Ukraine-Konflikts zu einem Krieg kommt. Sind diese Sorgen berechtigt?
Wir wollen diesen Konflikt auf keinen Fall ausbrechen lassen. Wir sind friedliche Leute und brauchen keinen Krieg mit unserem Nachbarn. Aber unsere westlichen Partner haben über die Medien die Atmosphäre sehr stark aufgeheizt. Tagtäglich hören wir Drohungen und Ultimaten. Wenn die Ukraine mit Waffen, Truppen und Sondereinheiten aus dem Ausland vollgepumpt wird, kann das auch zu Provokationen führen.
Wir müssen dazu bereit sein und für unsere Sicherheit sorgen. Die militärisch-technische Erschließung der Ukraine durch die Nato bedeutet für uns ein großes Sicherheitsrisiko. Bei entsprechenden Waffensystemen beträgt dann die Anflugzeit zu lebenswichtigen russischen Zentren nur noch fünf bis sieben Minuten. Das ist schon sehr gefährlich.
Es gibt die Zusicherung des Westens, dass sich die Nato ausschließlich als ein Verteidigungsbündnis versteht.
Diese Signale hören wir natürlich, aber das Leben sagt uns etwas anderes. Wir müssen nur an einige Ereignisse in der jüngeren Weltgeschichte denken, ob die Bombardierung Belgrads oder die Kriegsschauplätze Libyen, Irak oder Afghanistan.
Auch die Erläuterungen, dass die ABM-Waffensysteme in Polen oder Rumänien nicht gegen uns, sondern gegen den Iran gerichtet sind, erlaube ich mir in Zweifel zu ziehen und in die Märchensammlung der Gebrüder Grimm einzuordnen. Deswegen wollen wir feste, völkerrechtlich verankerte Garantien für unsere Sicherheit.
Was erwartet Russland konkret vom Westen?
Es gibt drei Schlüsselelemente. Erstens: Keine Nato-Erweiterung mehr in Richtung Osten. Zweitens: Keine weitere militär-technische Aufrüstung durch die Nato in unserer Nachbarschaft. Drittens: Rückzug der militär-technischen Infrastruktur der Nato auf den Stand von 1997, als wir die Russland-Nato-Grundakte unterzeichnet haben.
Als wir im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Einheit mit unseren internationalen Partnern über die äußeren Aspekte der Sicherheit in Europa gesprochen haben, wurde uns zugesichert, dass sich die Nato keinen Zentimeter gen Osten ausdehnen wird. Seit dieser denkwürdigen Zeit sind 14 neue Länder Nato-Mitglied geworden.
Die militärisch-technische Infrastruktur der Nato ist ganz nah an unsere Grenze gerückt. Und in den neuen Nato-Ländern stehen ausländische Truppenkontingente.
Es heißt, es habe bereits von westlicher Seite erste Antworten gegeben.
Ja, aber das kann uns leider nicht befriedigen. Wir erinnern an die Gipfeltreffen in Istanbul 1999 und in Astana 2010, wo alle Staats- und Regierungschefs einig waren, dass die Sicherheit eines Staates nicht auf Kosten der Sicherheit eines anderen Staates aufgebaut werden kann.
Ende des 20. Jahrhunderts haben wir mit unseren amerikanischen Gesprächspartnern Verträge unterzeichnet, die wir als Eckpfeiler der europäischen Stabilität betrachten: den ABM-Vertrag, den Vertrag über Kurz- und Mittelstreckenraketen und den Vertrag „Open Sky“. Alle drei Verträge haben die USA einseitig verlassen, auch das macht uns Sorgen.
Deutsche Osteuropa-Experten haben einen Neutralitätsstatus der Ukraine ins Spiel gebracht, eine Art Finnland-Modell. Was halten Sie davon?
Wir respektieren sehr den neutralen Status Finnlands oder Schwedens. Niemand von Ihren Leserinnen und Lesern wird sich erinnern, dass es an den dortigen Grenzen irgendwelche Spannungen mit Russland gegeben hätte. Die Gründungsakte der Nato sagt übrigens, das Bündnis kann jeden Staat als Mitglied aufnehmen. Aber das bedeutet nicht „muss“ oder „soll“.
Bundeskanzler Olaf Scholz gibt bislang dem Drängen der Nato-Partner, Waffen in die Ukraine zu liefern, nicht nach. Finden Sie das richtig?
Waffenlieferungen in die Ukraine finden wir absolut kontraproduktiv. Das ist nicht förderlich für eine friedliche Konfliktlösung. Mehr noch: Es provoziert nationalistische und extremistische Kräfte in der Ukraine zu unkontrollierten Aktionen, die eine weitere Krise auslösen können. Ganz zu schweigen davon, dass deutsche Waffen in der Ukraine, die gegen die Russen gerichtet sind, auch vom historischen Standpunkt aus sehr fraglich sind. Für die deutsch-russischen Beziehungen wäre das ein sehr schlechtes Signal.
Olaf Scholz kommt nächste Woche nach Moskau. Was erwartet man in Russland von diesem Besuch?
Wir freuen uns auf diesen Antrittsbesuch. Wir haben eine sehr breite bilaterale Agenda. Denn wir haben in den Nachkriegsjahren gemeinsam sehr viel Positives aufgebaut, politisch, wirtschaftlich, regional, kommunal. Und wir möchten das fortsetzen.
Es gibt viele Anknüpfungspunkte, auch weil Wladimir Putin Deutschland sehr gut kennt. Zwischen Hamburg, wo Olaf Scholz Erster Bürgermeister war, und St. Petersburg, wo Wladimir Putin tätig war, gibt es eine 65 Jahre alte Städtepartnerschaft, die älteste zwischen unseren beiden Ländern überhaupt.
US-Präsident Joe Biden hat beim Washington-Besuch von Scholz gesagt, wenn Russland die Grenze der Ukraine verletzt, wird es das Projekt Nord Stream 2 nicht mehr geben. Scholz selbst hat direkt zur Erdgas-Pipeline nichts gesagt.
Die US-Regierung würde damit in erster Linie den deutschen Firmen und der deutschen Bevölkerung schaden. Nord Stream 2 ist ein multilaterales Wirtschaftsprojekt, das mehrere europäische Konzerne umfasst und das mit einem Win-Win-Effekt: Wir liefern Gas nach Europa direkt, zu vernünftigen Preisen und gemäß langfristigen Lieferverträgen – und bekommen Geld dafür.
Wir sind seit mehr als 50 Jahren als zuverlässiger Lieferant von Erdgas für Deutschland anerkannt, und so soll es auch bleiben. Deutschland kann Gasverteilungszentrum Nummer 1 in Europa werden. Das gefällt nicht allen. Wenn die USA Flüssiggas nach Deutschland liefern wollen, das viel teurer ist, dann muss Deutschland selbst entscheiden, ob diese Option gewollt ist und sich rentiert.
Es gibt den Vorwurf, dass Russland derzeit weniger Gas liefert als eigentlich möglich wäre.
Wir liefern strikt nach Maßgabe langfristiger Verträge, sogar etwas darüber hinaus. Das Problem besteht darin, dass die Kollegen in der Europäischen Kommission auf langfristige Verträge verzichten wollten, mit billigen Preisen an der Börse gerechnet und stark auf die erneuerbaren Energien gesetzt haben. Und dann? Nicht genug Wind, nicht genug Sonne, Belebung der Weltwirtschaftskonjunktur, steigende Preise und Konkurrenz, keine angefragten Liefermengen, keine Lieferverträge. Und nun sind wieder die „bösen Russen“ schuld?
Gerhard Schröder hat schon drei Posten bei russischen Unternehmen inne. Nun soll er auch noch Aufsichtsrat bei Gazprom werden. Muss das sein?
Unter Gerhard Schröders Kanzlerschaft haben die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland einen enormen Aufschwung erlebt. Seine persönlichen Entscheidungen möchte ich nicht kommentieren. Er ist ein angesehener und erfahrener Politiker, den ich sehr respektiere.
Russland hat jetzt die Tätigkeit der Deutschen Welle verboten. Es sieht so aus, als sei das die Retourkutsche für die nicht erteilte TV-Sendelizenz für RT in Deutschland.
Diesen Konflikt wollten wir nicht. Seit mehreren Monaten sagen wir unseren deutschen Kollegen auf verschiedenen Ebenen: Bitte lassen Sie unsere Journalisten in Deutschland ruhig arbeiten. Die deutschen Journalisten in Russland können ungehindert arbeiten, unabhängig davon, was sie über unser Land berichten. RT vermittelt eine alternative Meinung, die vielleicht nicht allen hier gefällt, aber das ist eben Pressefreiheit.
Es gibt eine europäische Konvention über grenzüberschreitendes Fernsehen. Auf ihrer Basis hat RT absolut legitim eine Lizenz in Serbien beantragt und bekommen. Die gilt für alle Teilnehmerstaaten der Konvention, einschließlich Deutschland. Und dann kommt die deutsche Entscheidung über ein Sendeverbot. Unsere Schritte sind ausgesprochen Reziprozitätsmaßnahmen.
Aber RT kann weiter seine Website betreiben, Videos drehen und aus Deutschland berichten.
Wir möchten einen Fernsehsender betreiben, und das verweigert man uns mit der Begründung, dass RT DE eine Zulassung in Deutschland braucht, die er als staatsnaher Sender sowieso nicht bekommen würde. Aber RT DE in Berlin ist nur ein Contentproduzent, der Texte, Fotos und Bilder liefert. Der eigentliche Sender sitzt in Moskau. Von dort aus erfolgt auch die Programmsteuerung.
In Deutschland kann man auch CNN empfangen, BBC, Al Jazeera, andere staatlich finanzierte Medien, aber RT lässt man nicht zu. Das verstehen wir nicht. Wir sind für die freie Konkurrenz auf dem Medienfeld. Sollten die deutschen Kollegen Vorschläge für die Beilegung der Situation haben, werden diese von uns aufmerksam geprüft. Wir wollen keine Zuspitzung, aber mit der Diskriminierung unserer Journalisten können wir uns auch nicht abfinden.
Interview auf der RND-Seite.