Das Mittelstreckenwaffenbündnis
Bundesregierung will Rüstungskooperation mit Großbritannien ausbauen, unter anderem in der Produktion von Mittelstreckenwaffen. Ziele sind größere Unabhängigkeit von den USA und eine europäische Front gegen Russland.
Quelle: German Foreign Policy Com., LONDON/BERLIN (Eigener Bericht)
Die Bundesregierung strebt eine intensivere Rüstungskooperation mit Großbritannien an und sucht damit die Abhängigkeit Deutschlands von US-Waffenschmieden zu reduzieren. Dies geht aus einer gemeinsamen Erklärung hervor, die Verteidigungsminister Boris Pistorius und sein britischer Amtskollege John Healey am Mittwoch unterzeichnet haben. Demnach wollen beide Länder in Zukunft bei der Entwicklung, Produktion und Beschaffung von Kriegsgerät eng zusammenarbeiten, unter anderem bei der Herstellung einer Mittelstreckenwaffe, mit der von deutschen Standorten aus Moskau erreicht werden kann. Noch unklar ist, ob es sich um eine Hyperschallrakete handelt. Pläne zu einer engeren Kooperation, die auch eine intensive militärische Zusammenarbeit einschließt, werden seit gut zehn Jahren geschmiedet; sie wurden allerdings nach dem Brexit durch die Bestrebungen Berlins und der EU gestoppt, den britischen Austritt scheitern zu lassen bzw. London für ihn zu bestrafen. Schon seit dem Beginn des Ukraine-Krieges nähern sich beide Seiten in militärpolitischen Fragen wieder an – mit dem Ziel, eine gemeinsame Front gegen Russland zu bilden.
Ziel: Unabhängigkeit von den USA
Eine engere Rüstungs- und Militärkooperation streben Deutschland und Großbritannien bereits seit einem guten Jahrzehnt an. Um einen Ausbau der diesbezüglichen Beziehungen ging es beiden Staaten schon vor dem Brexit, so bei wechselseitigen Besuchen der damaligen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihres britischen Amtskollegen Michael Fallon im Jahr 2014.
Die im November 2015 vorgelegte britische Militärstrategie (Strategic Defence and Security Review) hielt ausdrücklich fest: „Wir streben eine Intensivierung unserer sicherheits- und verteidigungspolitischen Beziehungen zu Deutschland an.“[1] Der Brexit änderte im Kern daran nichts; er stärkte sogar das Kooperationsinteresse bei der EU: „Der Verlust der kompetentesten Streitkräfte“ Europas, der britischen, habe die EU „geopolitisch mehr geschwächt“, als sie es eingestehen wolle, stellte im vergangenen Jahr rückblickend der European Council on Foreign Relations (ECFR) fest. Gelinge es, London militärpolitisch zum „Andocken“ an Brüssel zu bewegen, dann lasse sich besser „strategische Souveränität“ – Unabhängigkeit von den USA – erreichen.[2] Insofern sei ein Ausbau der militärischen Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich auch für die EU ein unbedingt anzustrebendes Ziel.
Streit um den Brexit
War die damalige Premierministerin Theresa May in den ersten Jahren nach dem Brexit-Referendum noch bemüht, die Tür zur rüstungs- und militärpolitischen Kooperation mit der Bundesrepublik und der EU offenzuhalten, so scheiterte dies zunächst am Bestreben der Union, den britischen Austritt scheitern zu lassen bzw. das Vereinigten Königreich politisch für ihn zu bestrafen. Als Beispiel dafür kann der Streit um Galileo gelten. Großbritannien hatte das Satellitennavigationssystem der EU, das Brüssel Unabhängigkeit vom US-System GPS verschaffen soll, mitentwickelt und rund 1,2 Milliarden Pfund in es investiert.[3] Brüssel bestand nun aber in den Brexit-Verhandlungen darauf, das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt wie einen gewöhnlichen Drittstaat zu behandeln.[4] Das war formal korrekt, trug jedoch neben diversen weiteren Streitpunkten dazu bei, die Beziehungen zwischen London und der EU zu zerrütten. Das wiederum erwies sich als hinderlich für die Bestrebungen, militärisch enger mit Großbritannien zu kooperieren, um perspektivisch von den Vereinigten Staaten unabhängiger zu werden. Das Vereinigte Königreich wiederum musste weiterhin mit GPS vorlieb nehmen: eine klassische lose-lose-Situation mit gravierenden Nachteilen für beide Seiten – auch für die EU.
Rückkehr zur Kooperation
Eine Rückkehr zu einer intensiveren Zusammenarbeit vollzogen Berlin, Brüssel und London erst nach Beginn – und unter dem Druck – des Ukraine-Kriegs. Großbritannien und die EU stimmten sich nicht nur bei der Verhängung von Sanktionen und anderen Maßnahmen gegen Russland, sondern auch bei der Aufrüstung der Ukraine ab, dies allerdings überwiegend im NATO-Rahmen. Anfang März 2022 nahm die damalige britische Außenministerin Liz Truss an einem Treffen mit ihren EU-Amtskollegen zur Planung der künftigen Unterstützung für die Ukraine teil. London hat, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berichtet, etwa dazu beigetragen, „die EU-Ausbildungsoperation für die ukrainischen Streitkräfte zu gestalten“, weil es schon umfangreichere Erfahrung mit militärischen Trainingsmaßnahmen für ukrainische Truppen besaß.[5] Seit Beginn dieses Jahres arbeiten Deutschland und das Vereinigte Königreich auch auf binationaler Ebene enger zusammen. Im April 2024 unterzeichneten Kanzler Olaf Scholz und Premierminister Rishi Sunak eine Vereinbarung zur Ausweitung der Militär- und Rüstungskooperation.[6] Am Mittwoch folgte nun eine weitere Übereinkunft zwischen den Verteidigungsministern beider Länder, die insbesondere die gemeinsame Entwicklung, Produktion und Beschaffung von Waffen vorsieht.[7]
Rüstungszusammenarbeit
Eine deutsch-britische Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion ist nicht neu; sie gilt aber als, höflich formuliert, ausbaufähig. Bekannt ist die Kooperation bei der Fertigung des Eurofighters, der in Großbritannien Typhoon genannt wird; er wird von Airbus, BAE Systems (Vereinigtes Königreich) und Leonardo (Italien) gemeinsam hergestellt. Rheinmetall arbeitet mit BAE Systems bei der Fertigung des Radpanzers Boxer zusammen, den die britische Armee zur Zeit beschafft.[8] Ergänzend haben Berlin und London im April beschlossen, auch bei der Fertigung eines neuen Artilleriegeschützes zu kooperieren, das auf das Fahrgestell des Boxers montiert werden soll; es handelt sich dabei um die Remote-Controlled Howitzer 155mm (RCH 155).[9] Nun wollen beide Seiten die Rüstungszusammenarbeit intensivieren. Wie der britische Verteidigungsminister John Healey am Mittwoch bei seinem Treffen mit seinem Amtskollegen Boris Pistorius mitteilte, wird Großbritannien sich an Entwicklung und Produktion einer europäischen Mittelstreckenwaffe beteiligen, die Deutschland, Frankreich, Italien und Polen am Rande des NATO-Jubiläumsgipfels in Washington initiiert haben.[10] Ob es sich um eine ballistische Rakete, einen Marschflugkörper oder eine Hyperschallrakete handeln wird, ist noch nicht bekannt.
FCAS vs. Tempest
An einem Opfer des Brexits auf dem Feld der Rüstung laboriert die Bundesrepublik noch heute. An der Entwicklung eines Kampfjets der neuesten, sechsten Generation, die unter der Bezeichnung Future Combat Air System (FCAS) vorangetrieben wird, hatte sich zunächst neben Airbus und Dassault (Frankreich) auch BAE Systems beteiligt. Im Jahr 2018 wurde BAE Systems dann aber aus dem Gemeinschaftsprojekt hinausgedrängt: Man sei nicht dazu bereit, bei einem so bedeutenden Rüstungsprojekt mit einem Konzern zusammenzuarbeiten, der in einem Land außerhalb der EU ansässig sei, hieß es.[11] Airbus und Dassault sind seitdem zu zweit mit dem FCAS befasst, inzwischen freilich unter Beteiligung spanischer Airbus-Filialen. Das dutzende Milliarden Euro teure Projekt stand wegen ständiger deutsch-französischer Rivalitäten immer wieder auf der Kippe. Aktuell heißt es bei Dassault, man könne voraussichtlich erst im Jahr 2045 mit einer Indienststellung des FCAS rechnen. BAE Systems wiederum hat nach dem Ausschluss vom FCAS begonnen, einen eigenen Kampfjet der sechsten Generation zu entwickeln; inzwischen beteiligen sich die Konzerne Leonardo (Italien) und Mitsubishi Heavy Industries (Japan) daran. Das Projekt namens Tempest – formale Bezeichnung: Global Combat Air Programme (GCAP) – könnte schon 2035 einsatzfähig sein, deutlich früher als das FCAS.[12]
[1] S. dazu Ein gefährliches Spiel.
[2] Jeremy Shapiro, Jana Puglierin: The art of vassalisation: How Russia’s war on Ukraine has transformed transatlantic relations. European Council on Foreign Relations: Policy Brief. April 2023. S. auch Der „Vasallisierung” entkommen.
[3] Jessica Elgot: UK may never recover £1.2bn invested in EU Galileo satellite system. theguardian.com 30.11.2018.
[4] Tim Shipman: Galileo satellites offer axed in cabinet Brexit rebellion. thetimes.com 25.11.2018.
[5] Nicolai von Ondarza: Das Vereinigte Königreich und die EU: Neue Möglichkeiten, alte Hindernisse. SWP-Aktuell 2024/A 32. Berlin, 28.06.2024.
[6] Joint understanding on security and defence. Berlin, 24.04.2024.
[7] Stärkung der deutsch-britischen Beziehungen: Pistorius empfängt Healey in Berlin. bmvg.de 24.07.2024.
[8] S. dazu Rheinmetall im Aufwind.
[9] George Allison: Britain to purchase Boxer-based RCH155 artillery systems. ukdefencejournal.org.uk 24.04.2024.
[10] S. dazu Moskau in Schussweite.
[11] S. dazu Führungskampf in der EU-Rüstungsindustrie.
[12] Tim Kanning, Philip Plickert, Christian Schubert, Niklas Záboji: Kampfjet GCAP nimmt Form an. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.07.2024.