Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte
„Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte“
(Zusatzprotokoll I, kurz ZP I). Das Zusatzprotokoll spricht der Umwelt erstmals einen Eigenwert zu, der in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gesundheit und dem Überleben der Bevölkerung steht. Auch unabhängig von potentiellen Folgen für die Bevölkerung, ist bei der Kriegführung darauf zu achten, dass die natürliche Umwelt vor ausgedehnten, langanhaltenden und schweren Schäden geschützt wird, Art. 35 Nr. 3. und 55 Abs. 1 ZP I. Die natürliche Umwelt darf kein direktes oder indirektes militärisches Ziel sein.
Da Atomwaffen ohnehin vom Abkommen ausgenommen sind und Kernkraftwerke den besonderen Schutzbestimmungen aus Art. 56 ZP I unterliegen, ist die Anwendungsmöglichkeit des Zusatzprotokolls extrem limitiert.
Aktuell könnte die Bestimmung allerdings dann relevant werden, wenn die Ukraine eine gezielte Bombardierung der zahlreichen Chemiefabriken und Industrieanlagen starten sollte, die in der Ostukraine flächendeckend angesiedelt sind. Die Ostukraine (ukrainisch Східна Україна Schidna Ukrajina) ist der östliche Bereich der vier Großregionen der Ukraine. Das wäre zum Beispiel Charkiw (russisch Charkow) Dnipro, Donezk, Luhansk und Mariupol, wo sich große Industriegebiete befinden. Kernkraftwerke unterliegen den besonderen Schutzbestimmungen aus Art. 56 ZP I
Regelungen sind zu weit gefasst und ungenau
Dass sich Vertragsparteien bewusst über die Bestimmungen von Konventionen hinwegsetzen, kann nie ausgeschlossen werden und wäre in der Geschichte nichts Neues. Problematisch wird es allerdings, wenn die Regelungen selbst zu unbestimmt sind und damit einen großen Spielraum für potentiell umweltschädigende Kriegshandlungen geben. Dies ist sowohl bei ZP I, als auch bei ENMOD der Fall.
Nach ersten Einschätzungen von „Truth Hounds“, einer Organisation von Menschenrechtsexperten, die den Krieg in der Ukraine dokumentiert und analysiert, haben sich bereits einige solcher Vorfälle ereignet, die unter den Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls fallen und langfristig sogar als Kriegsverbrechen gegen die Umwelt (siehe nächster Abschnitt) eingestuft werden könnten. Dazu gehören insbesondere der Beschuss der Kokerei von Avdiivka, die Angriffe auf das und auf die Ölraffinerie von Lyssytschansk, welche zu mehrtägigen Bränden führten.7
Die Oblast Luhansk war bereits ein sich im Niedergang befindender "Rostgürtel", noch bevor 2014 russische und separatistische Kräfte 80 Prozent seines Territoriums besetzten. Seither ist durch den bewaffneten Konflikt und den damit einhergehenden Handelskrieg mit Russland die Industrie in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten von Luhansk kontinuierlich weiter geschrumpft.
Vor dem Krieg war die Düngemittelfabrik "Asot" in Sjewjerodonezk ein wichtiges Zahnrad innerhalb des sehr profitablen Erdgasimperiums des Oligarchen Dmytro Firtasch. Mittlerweile versteckt sich Firtasch in Wien vor dem Zugriff der amerikanischen und ukrainischen Behörden; seine russischen Gasverträge sind geplatzt. Die ukrainische Düngemittelindustrie, die er nahezu monopolisiert hatte, steht kurz vor dem Kollaps.
Die Schließung der Externer Link: Asot-Anlagewirft einen Schatten auf Sjewjerodonezk, die neue Hauptstadt der Luhansker Oblast, seitdem weite Teile dieser Oblast unter Besatzung sind. Die Bewohner der "Stadt der Chemiker" befürchten, dass die Tage der Anlage gezählt sind, und halten ängstlich Ausschau nach schrottbeladenen Lastern, die zum Symbol geworden sind für den Untergang der Fabriken im Donbas.