23. September 2016   Themen

Bewertung des Gesetzentwurfes für ein Bundesteilhabegesetz Positionspapier, 13. Juli 2016

Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Verantwortlich: MdB Katrin Werner, Behindertenpolitische Sprecherin

Stand: 07.07.2016
Zusammenfassung

Die Bundesregierung ist weder willig noch fähig, die menschenrechtlichen Vorgaben der UN-BRK zu erfüllen. Ein wirklicher Politikwechsel ist nicht zu erkennen. Das BTHG als "modernes Teilhaberecht", wie von der Koalition großmundig angekündigt, ist gescheitert. Fast alle Verbesserungen bewegen sich im alten Konzept der Sozialhilfe und der Fürsorge.

Von Selbstvertretungsorganisationen und vom Paritätischen wurde bereits der Vorschlag unterbreitet, die in die richtige Richtung deutenden Regelungen in den Teilen 1 und 3 des neu geplanten Neunten Buches Sozialgesetzbuch im Rahmen einer Novellierung des SGB IX umzusetzen, aber die alte Eingliederungshilfe erst einmal so zu belassen. Dazu können die Regelungen zur Frühförderung, Stärkung der Schwerbehindertenvertretung und der Werkstatträte sowie Einführung von Frauenbeauftragten in Werkstätten und für ein Budget für Arbeit und eine unabhängige Beratung gezählt werden.

Der vorliegende Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz hat seinen Namen nicht verdient und muss abschließend als Rückschritt bewertet werden. Es sind Verschlechterungen für die Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu befürchten. Dies ist nicht hinnehmbar. Daher unterstützt DIE LINKE die zahlreichen kritischen Stellungnahmen von Selbstvertretungsorganisationen, Verbänden und Gewerkschaften und fordert auch die umfassende Überarbeitung des Gesetzentwurfes auf der Grundlage folgender Punkte:

Das Bundesteilhabegesetz muss durchgängig menschenrechtlich ausgestaltet werden und direkt auf die rechtsverbindliche UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bezugnehmen! Und zwar im Gesetzestext, nicht nur in der Einleitung oder Begründung.

Dementsprechend ist der Behinderungsbegriff der UN-BRK korrekt und vollständig ins neue SGB IX und in alle weiteren betroffenen Gesetze zu übernehmen!

Der Schritt aus der Sozialhilfelogik ist nicht nur örtlich, sondern auch finanziell und strukturell zu gehen! Das neue SGB IX darf nicht in zwei Teile aufgebrochen werden. Es wird eine Gleichrangigkeit aller Teilhabeleistungen benötigt – die Nachrangigkeit der Leistungen der neuen Eingliederungshilfe im SGB IX ist abzuschaffen.

Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei den Teilhabeleistungen sowie andere Mehrkostenvorbehalte müssen abgeschafft werden! Die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in allen gesellschaftlichen Bereichen ist auf menschenrechtlicher Grundlage zu ermöglichen und zu garantieren. Werden den Kommunen in diesem Zusammenhang Aufgaben übertragen, müssen die entsprechenden finanziellen Mittel auch durch den Bund bereitgestellt werden.

Dies betrifft insbesondere die Leistungen zur sozialen Teilhabe und Assistenzleistungen.

Den Anspruch auf bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhängige persönliche Assistenz in jeder Lebenslage und -phase sowie in jedem gesellschaftlichen Bereich ist festzuschreiben, somit auch für ehrenamtliche Tätigkeiten sowie kulturelle und sportliche Aktivitäten!

Es darf in diesem Zusammenhang keine Zumutbarkeitsprüfungen oder Begründungsverpflichtungen geben! Das Selbstbestimmungs-, Wunsch- und Wahlrecht der Menschen muss garantiert und gestärkt werden. Eine Einschränkung ist menschenunwürdig!

 

Der leistungsberechtigte Personenkreis im Eingliederungsrecht im neuen SGB IX wird erheblich eingeschränkt. Die vor dem Hintergrund von Kostenersparnissen entwickelten bürokratischen Kriterien sind völlig inakzeptabel! Vielmehr müssen die individuellen Bedarfe und die Lebensrealitäten der Menschen grundlegend sein.

Es darf keine zwei verschiedenen Anspruchs-, Bedarfs- und Leistungsfeststellungsverfahren geben! Anspruch und Bedarf müssen nach bundesweit einheitlichen Kriterien auf Grundlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) festgestellt werden.

Verantwortliche Entscheidungsstellen mit bundesweit einheitlichen Zuständigkeiten für die Antragsannahme, Anspruchsprüfung und -feststellung sowie die Bedarfsermittlung sind gemäß dem Gedanken „Leistungen aus einer Hand“ einzurichten. Sie bewilligen die Leistungen und sichern die Leistungsverpflichtung der Rehaträger. Dieses Verfahren muss unter aktiver Beteiligung der Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen diskriminierungsfrei ausgestaltet werden. Es darf regional keine unterschiedlichen Standards, Herangehensweisen und Bedingungen für die Bedarfsermittlung und Leistungsgewährung geben.  

Begrüßenswert ist die Festschreibung der Förderung von Angeboten für unabhängige Beratung im Sinne „Betroffene beraten Betroffene“ (Peer Counseling) und die Zuweisung finanzieller Mittel zum Aufbau entsprechender Strukturen und Angebote. Leider fehlt ein wirksamer Rechtsanspruch auf die Beratung und Barrierefreiheit als verbindliches Kriterium. Diese Regelungen sind unbedingt noch hinzuzufügen und die bis 2022 festgeschriebene Befristung ist abzuschaffen!

Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretungsorganisationen und Verbände sind an allen Arbeitsgruppen und Ausschüssen, die das neue SGB IX betreffen, insbesondere das neue Eingliederungshilferecht, aktiv zu beteiligen. Auch müssen einheitliche Standards für die Beteiligung dieser Gruppen an der Erarbeitung und Überarbeitung von Gesetzen und Verordnungen, die sie betreffen, mit ihnen erarbeitet werden.

Im Bereich Arbeit und Werkstätten sind teils Fortschritte zu verzeichnen, aber auch viel Stillstand. So wird die viel zu niedrige Ausgleichsabgabe nicht angetastet. Hier sind spürbare Erhöhungen notwendig! Auch die Beschäftigungsquote sollte auf 6 Prozent angehoben werden. Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in der neuen Eingliederungshilfe dürfen nicht eingeschränkt werden.

Zu begrüßen ist die Einführung des Budgets für Arbeit. Die finanzielle Deckelung muss jedoch umgehend aufgehoben werden! Auch ist für bundesweit einheitliche, bedarfsgerechte Regelungen zu sorgen!

Werkstätten sind weitergehend schrittweise umzugestalten! Beschäftigte haben ein Recht auf ein reguläres Arbeitsverhältnis mit tariflicher Entlohnung. Der „arbeitnehmerähnliche“ Status ist perspektivisch aufzuheben. Diese Menschen sollen ArbeitnehmerInnen bei Beibehaltung der erforderlichen Nachteilsausgleiche sein. Die Unterscheidung zwischen „werkstattfähigen“ und „nicht werkstattfähigen Menschen“ muss aufgehoben werden, damit auch die Zugangsbedingung in eine Werkstatt – das Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Leistung – entfallen kann. Rückkehrrechte werden zwar nun ermöglicht, aber hierbei müssen erworbene Ansprüche der Menschen mit Behinderungen garantiert werden.

Begrüßt werden auch leichte Verbesserungen bei den Freistellungsregelungen und Weiterbildungsansprüchen der Schwerbehindertenvertretungen (SBV) und deren StellvertreterInnen, die Einführung der Mitbestimmungsrechte von Werkstatträten sowie die Festschreibung der Frauenbeauftragten in Werkstätten. Allerdings wären eine deutlichere Senkung der Freistellungsgrenzen der SBV sowie stärkere Mitbestimmungsrechte wünschenswert!

Die Alternativen Leistungsanbieter dürfen nicht im rechtsleeren Raum stehen! Sie müssen beispielsweise auf die Schaffung von Möglichkeiten für flexible Übergänge auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt, die Gewährung von Mitbestimmungsrechten für die Beschäftigten mit Behinderungen oder auf tarifliche Entlohnung verpflichtet werden.

Teilhabe an Bildung wird leider eingeschränkt und nicht inklusiv und bedarfsgerecht ausgestaltet. Dies ist nicht hinnehmbar! Es darf auch hier keine Zumutbarkeitsprüfungen geben. Im Gegenteil, es wird ein Anspruch auf einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabeleistungen in allen Bildungsphasen sowie eine bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung benötigt.

Die Früherkennung und Frühförderung ist weiter auszubauen. Wir fordern einheitliche Qualitätsstandards für alle Anbieter und die Beteiligung von Kindertagesstätten an der Komplexleistung Frühförderung. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist inklusiv auszurichten.

Verbesserungen bei Prävention und Rehabilitation bleiben modellhaft: Modellvorhaben sollen in den Rechtskreisen SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und SGB VI (Gesetzliche Rentenversicherung) zur Stärkung der Prävention und Rehabilitation eingeführt werden, um Menschen vor einem Eintritt in die Erwerbsminderungsrente oder dem Übergang in eine Werkstatt alternative Angebote und Möglichkeiten aufzuzeigen und diese mit ihnen zu erproben.

Das Vorhaben wird begrüßt, aber gesetzliche und unbefristete Ansprüche, die regelmäßig evaluiert werden, würden langfristiger wirken.

Das Gesundheitssystem darf nicht weiter diskriminierend bleiben! Die Mitnahme von Assistenzkräften muss in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens – Vorsorge, Krankenhäuser, Rehabilitation, Pflege, Hospiz – möglich sein und ohne finanzielle Benachteiligung für alle Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen garantiert werden. Dies sollte im Gesetzentwurf geregelt werden.

Eine Spaltung in teilhabeberechtigte und nichtteilhabeberechtigte Menschen mit Behinderungen ist verbindlich auszuschließen. Der Teilhabeanspruch auf Leistungen der neuen Eingliederungshilfe darf im häuslichen Bereich nicht beschränkt werden. Leistungen der neuen Eingliederungshilfe dürfen nicht unter Verweis auf einen Leistungsbezug im Rahmen der Hilfe zur Pflege nach SGB XII verwehrt werden.

Das SGB IX ist zu ergänzen. Leistungen, die sowohl den Hilfen zur Pflege nach dem SGB XII als auch den Leistungen zur Teilhabe nach dem neuen Recht im SGB IX zugewiesen werden können, müssen mindestens der neuen Eingliederungshilfe zugeordnet werden. Die nach dem SGB XI zu erbringenden Leistungen sind dann auf diese Leistungen anzurechnen.

Die Pflege ist teilhabesichernd auszugestalten. Leistungen der Hilfe zur Pflege sind ohne Einschränkungen, also ohne pauschalierten Bedarf auch im SGB XII zu gewähren. Das gilt auch für Menschen mit Pflegebedarf ohne anerkannte Behinderungen.

Das Merkzeichen Taubblind (TBl.) sollte nicht nur aufgenommen werden, sondern auch mit entsprechenden Nachteilsausgleichen verknüpft werden.

 

linksfraktion.de, 13. Juli 2016

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