03. November 2018   Themen

Das Rentensystem der Merkelregierung und das Rentensystem der Niederlande

Quelle: Wirtschaftswoche

In den Niederlanden bekommen Angestellte über 100 Prozent ihres früheren Einkommens als Rente. Wie funktioniert das?

Es ist eine Zahl, die unglaublich klingt: Wer in den Niederlanden in Rente geht, bekommt mehr als 100 Prozent seines letzten Einkommens als Altersbezug. Seine Rente liegt also über seinem vorherigen Gehalt. Und diese Zahlen stammen nicht von irgendwem, sondern wurden hochoffiziell von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) errechnet. Im Melbourne Mercer Pension Index belegen die Niederlande folgerichtig regelmäßig einen der Top-Plätze. Wie schaffen sie dieses Kunststück, während Deutsche im Schnitt nur etwa die Hälfte ihres letzten Gehalts bekommen? Und was kann Deutschland davon lernen?

 

Wenn deutsche Rentenexperten über die Niederlande schreiben, dann gebrauchen sie gerne den Begriff „Cappuccino“. In die imaginäre Renten-Kaffeetasse fließt dabei zunächst Kaffee in Form einer gesetzlichen Grundrente. Danach folgt, je nach kulinarischer Präferenz des Experten, Sahne oder Milch, die die Betriebsrente symbolisieren sollen. Garniert wird das Ganze mit Kakao oder Schokostreuseln, Sinnbild für die private Vorsorge.

Wer sich weniger für Kaffee interessiert, könnte auch sagen, die Niederländer setzen auf ein Drei-Säulen-Modell aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge. Das hört sich im ersten Moment gar nicht so anders an als in Deutschland. Tatsächlich gibt es jedoch existenzielle Unterschiede.

Statt Rentenniveau bis 2040 Wie die Rente wirklich gerettet werden könnte

Die SPD erntet viel Kritik für ihren Vorschlag, das Rentenniveau bis 2040 zu stabilisieren. Zu Recht. Viel interessanter ist jedoch, was stattdessen geschehen müsste.

Der erste besteht darin, dass die gesetzliche Rente der Niederländer nicht von ihrem vorherigen Gehalt abhängt oder auch nur von der Frage, ob sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Stattdessen bekommt jeder, der zwischen seinem 15. und seinem 65. Lebensjahr in den Niederlanden gelebt hat, eine Grundrente. Die beträgt bei Singles 70 Prozent des Mindestlohns und bei Paaren pro Partner 50 Prozent des Mindestlohns. Aktuell sind das für einen Single knapp 1232 Euro.

Da jeder Anspruch auf diese Summen hat, ist Altersarmut in den Niederlanden kaum ein Thema. Weniger als vier Prozent der Über-66-Jährigen dort sind laut OECD armutsgefährdet gegenüber 12,5 Prozent im OECD-Schnitt und 9,5 Prozent in Deutschland. Johannes Geyer, der am Wirtschaftsforschungsinstitut DIW Berlin zum Thema Rente forscht, nennt das niederländische System denn auch „sehr erfolgreich in der Armutsbekämpfung“: „Die Grundrente garantiert ein hohes Maß an Umverteilung, weil alle dasselbe erhalten und sogar einen relativ hohen Betrag.“

Grundrente und Pflichtbeiträge an Pensionskassen

Doch 70 Prozent des Mindestlohns schließen ja noch keine Rentenlücke. Hier kommt die zweite Säule ins Spiel: die betriebliche Altersvorsorge (bAV). Anders als in Deutschland ist die für praktisch alle Angestellten verpflichtend, sodass 90 Prozent aller Niederländer in eine Betriebsrente einzahlen. Die dritte Säule, die private Vorsorge, spielt hingegen keine entscheidende Rolle und fließt auch nicht in die OECD-Berechnungen ein.

Doch wie kommt die OECD aus diesen Zahlen auf ein Niveau von über 100 Prozent? Wie OECD-Rentenexperte Christian Geppert erklärt, handelt es sich um ein in die Zukunft gerichtetes Szenario. Es geht also nicht um heutige Rentner, sondern um heute 20-Jährige. Da die Niederlande das Rentenalter schrittweise von den heute geltenden 66 Jahren anheben wollen, müsste dieser 20-Jährige arbeiten, bis er 71 ist. In dieser Zeit würde er auch höhere Ansprüche aus der bAV erwerben.

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Sparplan Als Millionär in Rente

Für die meisten scheint es unvorstellbar, jemals Millionär zu werden. Dabei kann jeder die Million zu Rentenbeginn erreichen – zumindest rein rechnerisch. Wir zeigen, wer wie viel zurücklegen müsste.

Ein Geringverdiener käme so laut OECD auf eine sogenannte Nettoersatzquote von 105 Prozent. Er hätte also, nach Steuern und Sozialabgaben, etwas mehr Geld zur Verfügung als vor der Rente. Bei Durchschnittsverdienern sind es 101 Prozent, bei Gutverdienern mit dem anderthalbfachen Durchschnittseinkommen noch 100 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland läge die Nettoersatzquote im selben Szenario bei 55 Prozent (Geringverdiener), 51 Prozent (Durchschnittsverdiener) und 50 Prozent (Gutverdiener).

Während 20-Jährige in Deutschland heute also auf eine immense Rentenlücke zusteuern, können ihre niederländischen Altersgenossen entspannt in die Zukunft blicken. Zumindest dann, wenn sie durchgängig arbeiten und das auch möglichst lange. Im Szenario der OECD macht die Betriebsrente nämlich 70 Prozent des Alterseinkommens aus und die Grundrente gerade einmal 30 Prozent. Sind die Niederländer hingegen zwischendurch länger arbeitslos, im Ausland oder gehen schlicht früher in Rente, sinkt ihr Anspruch aus der Betriebsrente. Und das ist gar nicht so unrealistisch: Auch OECD-Experte Geppert räumt ein, dass „heutige Karrieren häufig kürzer sind und sich daraus etwas geringere Ersatzquoten ergeben“.

Die Kosten explodieren – in Deutschland, nicht in den Niederlanden

Und es lauert noch eine weitere Gefahr im großen Gewicht der Betriebsrenten. Während die niederländische Grundrente wie in Deutschland umlagefinanziert ist, arbeiten die Betriebsrentenkassen kapitalgedeckt. Das Geld wird also in Fonds verwaltet und an der Börse angelegt. Der Wert dieser Fonds beträgt mehr als eine Billion Euro.

Wer versuchen wolle, das niederländische Modell auf Deutschland zu übertragen, müsse das berücksichtigen, sagt DIW-Experte Geyer. In Deutschland mit fast fünfmal so vielen Einwohnern wäre natürlich auch diese Summe deutlich höher. „Damit trägt man in hohem Maße Kapitalmarktrisiken“, warnt DIW-Experte Geyer. So hätten die niederländischen Fonds in der Finanzkrise deutlich an Wert eingebüßt.

Geyer hält allein die Idee, dass Deutschland das niederländische System mit bAV und insbesondere Bürgerrente übernehmen könnte, für einen "echten Systembruch und deswegen schwer vorstellbar". Eine tiefgreifende Reform wird Deutschland indes langfristig nicht vermeiden können. Dabei ist zudem gar nicht gesagt, ob eine bessere Absicherung Zusatzkosten verursachen würde. Selbst das mickrige Rentenniveau von 50 Prozent, das Deutsche in Zukunft erwartet, lässt sich nur unter enormem Aufwand stemmen: Die OECD prognostiziert, dass die Rentenausgaben in Deutschland von heute etwa zehn Prozent des BIPs auf knapp 13 Prozent im Jahr 2060 steigen werden.

In den Niederlanden, die dann immer noch eine Rente von über 100 Prozent hätten, lägen die Kosten selbst dann noch bei weniger als acht Prozent.

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