Viren und Bakterien sind ein Teil von uns ...
Kommentar Roswitha Engelke: Wir können uns fortgesetzt gegen dies und jenes impfen lassen und/oder auf ewig einschließen, die Demokratie, das öffentliche Leben und unsere Infrastruktur zerstören ..., solange wir auf der einen Seite Viren, Bakterien, Pilze und Mikroben und auf der anderen Seite uns sehen, haben wir die Situation nicht begriffen. ...
Bakterien, Viren, Pilze leben im Menschen, seit es ihn gibt – und haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine kleine Kulturgeschichte der Seuchen
von Arno Wittmann, Quelle: Frankfurter Rundschau
Husten und eine triefende Nase werden im ältesten medizinischen Text der Menschheit als Symptome einer Krankheit namens „resh“ genannt; „Erkältung“ sagen wir. Der in der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrte Papyrus Ebers stellte im 16. vorchristlichen Jahrhundert auf zwanzig Metern ältere medizinische Texte zusammen. Rhinoviren verursachten und verursachen Erkältungen und Asthma-Erkrankungen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein Mensch ein Jahr seines Lebens liegend verbringt, weil ein Rhinovirus ihn niedergestreckt hat.
Die ersten Belege für eine Pockenerkrankung sind 3500 Jahre alte ägyptische Mumien. Der die Pocken bewirkende Variolavirus hat in der Weltgeschichte immer wieder ganze Bevölkerungen umgebracht. Nicht mit ihren überlegenen Kriegstechniken und Waffen rotteten die Spanier – so lauten manche natürlich mit größter Vorsicht zu betrachtende Schätzungen – bis zu 90 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas aus, sondern mit ihrem Verbündeten, dem Variolavirus, dem die Immunsysteme der Indianer nichts entgegenzusetzen hatten. Als die Eroberer das merkten, verschenkten sie verseuchte Wolldecken. Sie setzten sie, lange bevor es das Wort gab, als biologische Waffen ein.
In Indien waren die Pocken um das Jahr 400 so beschrieben worden: „Die Pusteln sind rot, gelb und weiß. Sie sind mit brennenden Schmerzen verbunden.“ Die Überlebenden der damaligen Epidemie erfanden die Göttin Shitala, die gegen den die Pocken verbreitenden Dämon Jwarasur zu Felde zog. Ihr zu opfern, versprach Schutz gegen die Seuche.
Eine nicht sehr erfolgreiche Maßnahme. Um 900 allerdings soll es in China erste wirkungsvolle Therapien gegeben haben. Ärzte schnitten Pusteln einem gesunden Menschen in den Oberarm. Die meisten überlebten nicht nur das, sondern sie wurden auch resistent. Manchmal wurden Pusteln auch zu einem Pulver verarbeitet, das man einrieb.
Die Therapie wanderte westwärts. Nach 1600 erreichte sie Konstantinopel. Von dort aus breitete sich das Verfahren aus. Als 1721 eine Pocken-Epidemie in Boston wütete, behandelte ein dortiger Arzt Hunderte von Patienten mit diesem Variolation genannten Verfahren. Die so behandelten Patienten überstanden die Epidemie deutlich besser. Nachdem Edward Jenner 1798 seine Erfahrungen veröffentlicht hatte, waren drei Jahre später allein in England einhunderttausend Menschen „geimpft“ gegen Pocken. Der Variolavirus hat als einzigen Wirt den Menschen, er scheint keine Ausweichgebiete gefunden zu haben. Darum gelang es, ihn weitgehend auszurotten.
Das Pestbakterium wurde in Hongkong in den 1890ern entdeckt, als dort bei einem Ausbruch ein Schüler Robert Kochs und einer von Louis Pasteur getrennt voneinander zum selben Ergebnis kamen. Das war der Anfang vom Ende einer Krankheit, die über Jahrhunderte immer wieder Weltgeschichte geschrieben hatte. Als Überträger wurden Ratten identifiziert. Die Pest war keine Strafe Gottes und Judenmord in Europa keine zielführende Maßnahme mehr gegen sie.
Nach dem Ersten Weltkrieg infizierte die aus den USA importierte sogenannte Spanische Grippe, ein Influenza-Virus, wohl 500 Millionen Menschen. 50 Millionen sollen weltweit an ihr gestorben sein. Die deutsche Republik ist womöglich eines ihrer Produkte. Wäre Max von Baden nicht im entscheidenden Moment erkrankt, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert hätte sich womöglich mit ihm über eine Fortführung der Monarchie arrangiert.
Der amerikanische Wissenschaftsjournalist David Quammen veröffentlichte 2013 „Spillover. Der tierische Ursprung weltweiter Seuchen“. Abermillionen Menschen seien an Infektionskrankheiten gestorben, die seit 1981 den Sprung vom Tier zum Menschen gemacht haben. Bakterien, Pilze, Protisten, Prionen und Würmer wechselten die Wirte und plagten jetzt die Menschheit mit Krankheiten, die vorher Pflanzen und Tiere belästigt hätten.
Am wichtigsten erscheinen Quammen Viruserkrankungen: Ebola, West-Nil-Epidemie, Marburg, Sars, Dengue-Fieber, Gelbes Fieber, Hanta, Chikungunya, HIV usw. Er überlegt: Könnte es nicht sein, dass die Zerstörungen unserer Umwelt Viren heimatlos machen? Suchen sie, deren Wirte wir umbringen, sich neue Wirte und stoßen dabei auf uns, eine sich gewaltig vermehrende Spezies? Wir treiben, so Quammen, uns selbst die Seuchen zu.
Sein frappierendstes Beispiel ist die Immunschwäche Aids. Wie lange war Aids eine Krankheit unter Schimpansen und Gorillas, bis sie auf uns übersprang? Wir waren völlig unvorbereitet, erlagen ihr mit riesiger Geschwindigkeit. 35 Millionen Menschen starben bis 2015 an Aids. Quammen schreibt: „Behalten wir die Wildtiere im Auge. Wenn wir sie in die Ecke treiben, wenn wir sie ausrotten und sie essen, werden wir ihre Krankheiten bekommen.“
So plausibel das ist, wollen wir unser so brutal aufgeschrecktes Interesse an der Welt der Mikroben auch nutzen, um einen Blick auf sie zu werfen. Bernhard Kegel schreibt in „Die Herrscher der Welt – Wie Mikroben unser Leben bestimmen“: „Sie sollten also versuchen, gegenüber Bakterien und den anderen einzelligen Helden, denen Sie auf den folgenden Seiten begegnen werden, zumindest für die Zeit Ihrer Lektüre eine eher entspannt-gelassene Haltung einzunehmen.“
Solange wir nämlich auf der einen Seite die Mikroben und auf der anderen Seite uns sehen, haben wir die Lage nicht verstanden. „Ein Drittel der in unserem Blut zirkulierenden Stoffwechselverbindungen ist nicht-menschlichen Ursprungs“, schreibt Kegel. 7000 bis 10 000 Arten von Mikroben leben in unserem Zahnbelag. Hochspezialisierte Lebewesen, die nur an einem bestimmten Zahn, an einer bestimmten Seite von ihm florieren. Jeder von uns ist ein Konglomerat wuchernder Ökosysteme. Die uns vertraute Erde ist mit ihren etwa 5500 Säugetierarten damit verglichen eine winzige Minigolfanlage.
Ohne einen Blick zu werfen in die Welt der Mikroben, in die Welt also von Bakterien, Viren und Pilzen, haben wir eine völlig falsche Vorstellung von der Welt, in der wir leben. Es gibt sie überall und es gibt sie in unvorstellbaren Mengen. Natürlich auch in unserem Körper: Ein einziges Gramm Darminhalt enthält bis zu einer Billion Mikroben. Hundert Billionen sollen sich an und in einem einzigen menschlichen Körper befinden – je nach Schätzung bis zu zehn Mal so viel, wie wir Körperzellen haben.
Kegel schreibt: „Was Sie im Spiegel, auf Familienfotos, den Titelbildern der Illustrierten oder auf der Straße sehen, sind also nicht einfach Menschen. Jeder von uns ist nicht nur einer, sondern sehr, sehr viele. Sie sehen Superorganismen, jeweils bestehend aus einem Menschen und, so eine Schätzung des Human Microbiome Consortium, mindestens 10 000 verschiedenen Bakterienarten, von Pilzen und Protisten gar nicht zu reden.“
Als vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren tierisches Leben entstand, hatten Bakterien schon mindestens drei Milliarden Jahre Evolution hinter sich. Wir sind auch ihre Produkte. Wir stehen ihnen nicht gegenüber. Sie leben in uns. Sie sind ein Teil von uns. Blicken wir genauer hin, würden wir vielleicht eher sagen: Wir sind ein Teil von ihnen.
Frank Ryan, ein englischer Biologe, schreibt in seinem Buch „Virolution“, wir Menschen seien eine holobiontische Einheit von wirbeltierischem und viralem Erbe. Holobiontisch heißt, dass die Selektion und andere evolutionäre Einflüsse zukünftig nicht mehr an beiden Partnern getrennt ansetzen, sondern nur noch am gemeinsamen Ganzen. Erst durch zahlreiche Mikroben-Attacken hindurch hat der Mensch sich im Lauf der Evolution zu dem entwickelt, der er heute ist. In unserer DNS kann man nicht nur verfolgen, mit wem wir uns gepaart haben, man kann auch feststellen, welche Viren uns gezwungen haben, sie zu vermehren.
Fünfzig Millionen Menschen brachte die Spanische Grippe den Tod. Die 450 Millionen überlebenden Infizierten lebten mit dem Virus weiter. Und sie gaben ihn weiter an ihre Nachkommen. Der Virus war danach – wie sage ich? – ruhig. Bis 1977/78 ein Subtyp, die sogenannte Russische Grippe, und 2009 ein weiterer Subtyp als Schweinegrippevirus eine neue Pandemie auslösten.
So stellt sich, angestachelt vom Coronavirus, der ganze Volkswirtschaften lahmlegt, mein Laienverstand gegenwärtig seine Stellung in der Welt inmitten seines Mikrobioms vor. Es wäre schön, ich könnte mit dessen Hilfe mein privates Defizit so hübsch ausgleichen, wie das Italien gerade versucht.