21. Februar 2022   Themen

Arbeitsbedingungen in Behindertenwerkstätten: Fair ist anders

Quelle: ZEIT.ONLINE

Warum gelten ausgerechnet in Werkstätten für behinderte Menschen die Standards für fairen Handel nicht? Unternehmen und Kunden dürfen das nicht länger hinnehmen.

16. Februar 2022, 11:31 Uhr 

Immer mehr Unternehmen setzen auf fair produzierte Produkte, die Kundschaft freut sich über einen Einkauf mit gutem Gewissen. Erst recht, wenn die Waren in Werkstätten für behinderte Menschen hergestellt wurden. Doch gerade dort gelten keine Fairtrade-Standards. Das muss sich endlich ändern, schreibt der Aktivist Raul Krauthausen in seinem Gastbeitrag. in ZEIT.ONLINE.

Konsumentinnen und Konsumenten legen zunehmend Wert auf Produkte, die nachhaltig und fair hergestellt werden. Der Kaffee aus Äthiopien soll so gehandelt werden, dass die Bäuerinnen und ihre Familien dort davon leben können. Dasselbe gilt für Schokolade, Tee und andere Artikel des täglichen Bedarfs wie Blumen, Kleidung oder Teppiche. Zudem greifen wir gerne zu Produkten, mit deren Erlös auch noch soziale Projekte für Frauen und Kinder gefördert oder einem Dorf sauberes Trinkwasser ermöglicht wird.

Garniert wird das gute Gewissen der Konsumenten, aber auch vieler Unternehmerinnen, wenn auf den Produkten auch noch ein Aufkleber wirbt: "Produziert in einer Werkstatt für behinderte Menschen". Alles richtig gemacht also?

Leider ist dem nicht so, denn in diesen Behinderten-Werkstätten gelten die Fairtrade-Standards zum Beispiel in Bezug auf einen existenzsichernden Lohn, das Streikrecht und die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht. Nur schaut keiner so genau hin, wer den in Sri Lanka fair eingekauften Tee hier in Deutschland verpackt und verschickt.

320.000 Personen arbeiten in Deutschland in Werkstätten für behinderte Menschen. Die Zeiten, in denen sie nur Adventskränze für den Weihnachtsbasar gesteckt oder Kugelschreiber gedreht haben, sind vorbei.

 

Diese Werkstätten haben eine hohe Professionalisierung durchgemacht

und bieten eine breite Palette von Produkten an – auch fair gehandelte Waren, wie unter anderem Tee, Kaffee und Schokolade. Große Unternehmen, darunter Vorreiterinnen des fairen und sozialen Handels, werben damit, hundertprozentig fair und engagiert zu sein und arbeiten gleichzeitig eng mit Werkstätten für behinderte Menschen zusammen. Es gibt zahlreiche Onlineshops für faire, nachhaltige Produkte, die auch Waren aus Werkstätten verkaufen.

Arbeiten für 1,35 Euro die Stunde

Das Problem dabei: In den Werkstätten stellen die Menschen zwar hochwertige Waren her und führen für Unternehmen und Verwaltungen sehr professionell Dienstleistungen durch. Sie sind aber dennoch keine regulären Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern lediglich Beschäftigte. Denn sie sind eigentlich als Rehabilitantinnen und Rehabilitanten in den Werkstätten, dort sollen sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereitet und in einen regulären Job vermittelt werden.

Nur passiert das so gut wie nie. Stattdessen arbeiten die meisten dort ihr ganzes Berufsleben für bis zu 35 Stunden in der Woche. Sie haben keine Betriebsräte, nur schwache Werkstatträte, kein Streikrecht und verdienen im Schnitt nur 1,35 Euro die Stunde. Für ihren Lebensunterhalt sind sie auf staatliche Zahlungen angewiesen.

Dabei gibt es jetzt das vor Kurzem verabschiedete Sorgfaltspflichtengesetz, besser bekannt als das Lieferkettengesetz Deutsche Unternehmen müssen demnach dafür sorgen, dass in ihren gesamten Lieferketten die Menschenrechte eingehalten werden.

Und es gibt die UN-Behindertenrechtskonvention, die die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen konkretisiert und spezifiziert. Sie beinhaltet, dass Menschen mit Behinderungen ihren Lebensunterhalt in einem offenen, integrativen und zugänglichen Arbeitsmarkt und Umfeld verdienen sollen.

Beschäftigten in deutschen Behindertenwerkstätten wird dieses Recht jedoch nicht gewährt – eine Tatsache, für die die Bundesrepublik von den Vereinten Nationen bereits gerügt wurde.

 

Können Sie sich erklären, warum das Lieferkettengesetz nicht für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen gilt?

Ich nicht. Diese gesetzliche Lücke zeigt, dass sich politische Akteure, die unsere Gesetze erarbeiten und verabschieden, die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht bewusst machen. Die Gesellschaft denkt Menschen mit Behinderung einfach nicht mit. Und wenn wir doch an sie denken, dann machen wir es uns einfach und richten Sondereinrichtungen für sie ein, in denen sie gut versorgt und gefördert werden sollen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Diese Exklusion, an der wir seit Jahren festhalten, meinen wir uns sogar noch mit einem guten Gewissen rechtfertigen zu können.

Armut und Behinderung sind verknüpft

Schauen wir mal über die Grenzen hinweg, in die Länder, in denen Fairtrade-Unternehmen Arbeitsbedingungen verbessern wollen. Etwa 80 Prozent der mehr als eine Milliarde Menschen, die weltweit mit Behinderungen leben, leben in Ländern des Globalen Südens. Viele dieser Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Armut und Behinderung sind dabei eng verknüpft und bedingen sich gegenseitig, denn Behinderung ist sowohl ein Grund für als auch eine Konsequenz von Armut. Schätzungen gehen davon aus, dass 90 Prozent der Kinder mit Behinderungen in diesen Ländern nicht zur Schule gehen und infolgedessen keine Chance auf eine existenzsichernde Arbeit haben.

Inklusion in armen Ländern ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Lebensqualität behinderter Menschen verbessert. Wer Armut in den Ländern effektiv verringern will, muss die Bedürfnisse und Interessen von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen berücksichtigen. Sie sind oft doppelt benachteiligt und müssen daher unbedingt von fairen und nachhaltigen Arbeitsbedingungen profitieren. Denn das gesundheitsschädigende Arbeitsumfeld, zum Beispiel in der Lederindustrie, verursacht nicht nur viele Behinderungen. Viele dieser Jobs werden von ohnehin schon benachteiligten Personen, wie Menschen mit Behinderungen, ausgeführt, weil sie – wie auch in Deutschland – durch Strukturen und Vorurteile auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind.

Diskriminierung - Sie nannten sich Krüppel Swantje Köbsell kettete sich 1981 in ihrem Rollstuhl an die Bürgerschaft in Bremen. Der Auftakt für eine neue Form des Protests für Menschen mit Behinderungen.

 

So bleibt für viele Menschen mit Behinderungen, wenn überhaupt, nur ein Job, der wiederum zu Behinderungen führt. Die Prinzipien des fairen Handels knüpfen daran an, denn ihr Ziel ist es, wirtschaftlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen ein sicheres Einkommen zu gewähren, das die alltäglichen Lebenshaltungskosten inklusive einer sozialen Absicherung deckt.

Doch nicht nur der faire Handel mit den Ländern des Globalen Südens verpflichtet zu sozialer Verantwortung, auch die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten zu inklusiver Entwicklungszusammenarbeit, um den Kreislauf zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und dem Erwerb von Behinderungen und damit weiteren Benachteiligungen zu durchbrechen. Studien zeigen jedoch, dass das kaum umgesetzt wird.

Was können wir tun, damit Fairtrade-Standards und die UN-Behindertenrechtskonvention bei uns in Deutschland konsequent umgesetzt werden? Viele Firmen, die in Behindertenwerkstätten produzieren lassen, wissen nicht, dass die Werkstattbeschäftigten keinen Mindestlohn erhalten, sich nicht gewerkschaftlich organisieren dürfen und so gut wie nie eine Chance bekommen, irgendwann mal eine reguläre Arbeit zu bekommen. Also fragen Sie bei Ihrem Lieblingsunternehmen nach, wer das ökologisch einwandfreie Holzspielzeug sägt, wer den Fairtrade-Kaffee und Tee verpackt, wer die Produkte des Designer-Start-ups verschickt.

Fragen Sie nach, ob das Unternehmen weiß, was die Beschäftigten in einer Behindertenwerkstatt verdienen. Erzählen Sie, dass weniger als ein Prozent von ihnen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt wird, obwohl sie ja eindeutig hervorragende Arbeit leisten können. Schauen Sie, ob Sie nicht in Ihrem eigenen Unternehmen jemanden von einer Werkstatt für behinderte Menschen direkt bei sich anstellen können.

Genau so wie die Fairtrade-Bewegung vor vielen Jahren mit kritischen Fragen von Konsumentinnen und Konsumenten begann, müssen wir solche Fragen nun an das System der Behindertenwerkstätten stellen. Nur dann können wir zu einem allgemeinen Arbeitsmarkt kommen, der fair für alle ist.

 

 

 

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