05. Februar 2013   Themen

Eine Folge der Agenda 2010 - Zunahme psychischer Krankheiten durch wachsenden Arbeitsstress

04.02.2013 - Jutta Krellmann
»Eine Machtfrage zwischen Kapital und Arbeit«

Jutta Krellmann, Sprecherin für Arbeits- und Mitbestimmungspolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Ergebnisse des "Stressreport Deutschland 2012", die Gründe für zunehmenden Stress am Arbeitsplatz, die Folgen der Agenda-Politik,

warum sie wenig Hoffnung hat, dass Arbeitgeber für Entschleunigung sorgen, und nur durch Arbeitskampf und gesellschaftlichen Druck Abhilfe geschaffen werden kann.

Der Stress am Arbeitsplatz hat in den vergangenen zwei Jahren zugenommen. Davon sind laut "Stressreport Deutschland 2012" 43 Prozent der Erwerbstätigen überzeugt. Fast 20 Prozent fühlen sich komplett überfordert. Was sind die Gründe dafür?
Jutta Krellmann: Der wichtigste Grund für den Stress ist die Arbeitsverdichtung. Beschäftigte müssen immer mehr in immer kürzerer Zeit leisten. Viele Unternehmen wälzen ihr unternehmerisches Risiko mit neuen Managementmethoden immer stärker auf die Beschäftigten ab und setzen diese mit Zielvereinbarungen und Leistungskennziffern systematisch unter Druck. Auch die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Zunahme atypischer Beschäftigung- Leiharbeit, Werkverträge und befristete Arbeit spielt eine große Rolle. Das sind auch die Auswirkungen der Agenda 2010.

 

Welche Folgen hat das?

Die Folgen sind für die Betroffenen dramatisch. Immer mehr Menschen werden krank durch Stress. Die Zahl der Fehltage wegen psychischen Problemen ist in zehn Jahren um etwa 60 Prozent gestiegen. Die Zahl der Frühverrentungen wegen psychisch bedingter Berufsunfähigkeit stieg im selben Zeitraum bei Männern um 66 Prozent, bei Frauen sogar um 97 Prozent. Millionen von Menschen werden aus der Arbeitswelt regelrecht ausgespuckt, weil sie den Anforderungen nicht mehr standhalten. Das ist eine demütigende Erfahrung für die Betroffenen  und bedeutet bei Frühverrentung häufig Armut im Alter.

Sollte das Unternehmen nicht zu denken geben?

Einigen Unternehmen gibt das bereits zu denken. Aber ich setze keine Hoffnung auf die Einsicht der Unternehmer. Denn die Verdichtung von Arbeit und Verlängerung von Arbeitszeiten ist nach wie vor eines der wichtigsten Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens auf dem Markt zu steigern. Auch wenn einige Unternehmen das Problem Arbeitsstress wahrnehmen, sind sie oft nicht bereit, einfache Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu verbessern. Arbeit zu entschleunigen kostet häufig einfach viel Geld.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt meinte kürzlich, psychische Erkrankungen seien nicht vorrangig auf Arbeit zurückzuführen, die Ärzte diagnostizierten psychische Erkrankungen einfach öfter.

Ja, Dieter Hundt hat gesagt, man müsse mehr auf das Freizeitverhalten von Beschäftigten schauen. Aber die Unterscheidung von "Arbeit" und "Privatleben" fällt ja gerade immer mehr Beschäftigten immer schwerer, weil Arbeitszeiten unregelmäßiger werden und Vorgesetzte ihre Beschäftigten immer häufiger in der Freizeit anrufen. Wenn eine Kassiererin bei Edeka auf Abruf bereit stehen muss, dann verändert sich natürlich auch ihre Freizeit, es gibt  Spannungen in der Familie und ähnliches. Die Gestaltung der Freizeit und des Privatlebens ist bei den meisten Menschen wesentlich von der Gestaltung der Arbeit abhängig, nicht umgekehrt.
Und zur Frage mit der Diagnose: Ich sehe keinen Grund, warum ich den Erfahrungsberichten der befragten Kollegen misstrauen sollte. Und deren Aussage ist eindeutig.

Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mehr als 40 Stunden. Lust, Zwang oder Angst?

Dafür gibt es mehrere Gründe. In vielen Unternehmen wird die Arbeitszeit nicht mehr streng gemessen, weil die Unternehmen auf neue Formen der Leistungskontrolle setzen. Da bekommen Beschäftigte bestimmte Zielvorgaben, die sie erfüllen müssen und "dürfen" selbst auf die Zeit achten. Am Ende leisten sie regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit. Das ist ein wichtiger Grund für Mehrarbeit. Aber es sind oft auch niedrige Stundenlöhne, die Menschen freiwillig länger arbeiten lassen, um auf das nötige Geld zu kommen. Oder eben die Angst um den Arbeitsplatz.

Brauchen wir eine Debatte über die Verteilung der Arbeit und eine Verkürzung der Arbeitszeit? Oder ist daran unter den gegenwärtigen Verhältnissen gar nicht denkbar?

Ja, wir brauchen diese Debatte. Es ist widersinnig, dass ein Teil der Beschäftigten so viel arbeitet und ein anderer Teil Arbeit sucht oder - und das ist sogar noch häufiger - "unterbeschäftigt" ist, das heißt gerne länger arbeiten würde. Denkbar ist eine Neuverteilung der Arbeit natürlich. Ob es durchsetzbar ist, das hängt von vielen Faktoren ab - von gesetzlichen Initiativen, aber mindestens ebenso stark von außerparlamentarischen Mobilisierungen der Gewerkschaften. Letzten Endes ist das eine Machtfrage zwischen Kapital und Arbeit, die am Ende nicht über Argumente alleine entschieden wird, sondern über Arbeitskampf und die Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte.

Welche Rolle spielen Leiharbeit, Werkverträge, befristete Arbeitsverhältnisse und Niedriglohn für Stress?

Eine sehr große. Alle einschlägigen Untersuchungen zeigen, dass Leiharbeit, Befristungen und Werkverträge großen Stress verursachen. Sie sind verbunden mit häufigerem Wechsel des Arbeitsplatzes, des Einsatzortes und der Kollegen. Die atypisch Beschäftigten müssen sich häufiger in ungewohnte Arbeitsaufgaben einarbeiten und ihnen fehlt das stabile soziale Netz von langjährigen Kollegen im Betrieb. Sie werden als erste entlassen, wenn das Unternehmen Probleme hat. Das macht anfälliger für Stress, ebenso die ständige Erfahrung, Beschäftigter "Zweiter Klasse" zu sein. Niedrige Löhne verursachen auch Stress, weil sie permanente soziale Unsicherheit bedeuten. Menschen mit geringerem Einkommen haben auch schlechtere Möglichkeiten sich zu erholen.

Was kann gegen Stress am Arbeitsplatz getan werden und wie kann das wirksam in Unternehmen implantiert werden?

Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie die IG Metall vorgeschlagen hat. Damit können Stressbelastungen im einzelnen Betrieb im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen regelmäßig geprüft werden. Die Beschäftigten müssen mehr Mitspracherechte bekommen bei der Ausgestaltung von Arbeitsprozessen, aber auch eine Mitbestimmung in wirtschaftlichen Fragen. Wenn das Personal fehlt, hilft die beste Organisation von Arbeitsprozessen nichts.
Arbeitszeitgesetze müssen strikter eingehalten werden. Am Ende reichen Gesetze auf der Ebene des einzelnen Betriebs alleine nicht aus: Die Deregulierung des Arbeitsmarktes muss rückgängig gemacht werden.

http://www.linksfraktion.de/interview-der-woche/eine-machtfrage-zwischen-kapital-arbeit/

 

 





 

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