Angriff auf den Sozialstaat
(...) «Im Haushaltsausschuss erleben wir, wie Milliardenbeträge kurzerhand in die Bundeswehr investiert werden, während um das Bürgergeld, das nur einen Bruchteil des Haushalts ausmacht, eine wochenlange Schlacht in den Medien geführt wird.» (...)
Beitrag: Rosa-Luxemburg-Stiftung: Ines Schwerdtner (MdB, Co-Vorsitzende der Partei Die Linke und Mitglied im Haushaltsausschuss des Bundestages) über den Haushalt der Aufrüstung und das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells,
Foto: IMAGO / Steinsiek.ch
Einen Rekordhaushalt in Rekordtempo hatte die Bundesregierung versprochen. Stattdessen handelt es sich um maßlose Aufrüstung und Taschenspielertricks im Haushalt. Der «Herbst der Reformen» ist in Wahrheit ein massiver Angriff auf den Sozialstaat. Die Haushaltsverhandlungen zu verstehen, bedeutet, das neue politische Projekt der herrschenden Klasse zu verstehen. Schließlich ist die Ampelregierung bereits an der Haushaltspolitik gescheitert.
Ines Schwerdtner, MdB, ist Co-Vorsitzende der Partei Die Linke und Mitglied im Haushaltsausschuss des Bundestages.
Das übergeordnete Ziel der aktuellen Bundesregierung ist eine beispiellose Aufrüstung gepaart mit Angriffen auf den Sozialstaat, die die Bundesrepublik seit der Agenda 2010 nicht erlebt hat. Während einerseits sehr schnell die Schuldenbremse für den Bereich des Militärischen ausgesetzt wurde, wird um Investitionen in die Infrastruktur gerungen. Das alles geht zu Lasten des Kernhaushaltes, in dem «Konsolidierungsdruck» herrscht – Jargon der Herrschenden für «Kürzungen».
Hintergrund der aktuellen politischen Auseinandersetzung um den Sozialstaat ist eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen Basis: Das deutsche Wirtschaftsmodell, das auf günstiger Energie, billiger Arbeitskraft und einer starken Exportorientierung basiert, ist an sein Ende gekommen. Die politischen Parteien ringen darum, es wiederzubeleben, auf Kosten der Menschen in diesem Land und der dringend benötigten Infrastruktur.
Sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf europäischer Ebene hat die Wiederherstellung des deutschen Wachstumsmodells Priorität. Mit anderen Worten: Es soll alles Notwendige getan werden, um Deutschland wieder «wettbewerbsfähig» zu machen. Auf der nationalstaatlichen Ebene kommt noch der Aspekt der innereuropäischen Standortkonkurrenz hinzu. Die Bundesregierung – und hierbei sind alle Koalitionspartner, also auch die SPD, ausdrücklich mit eingeschlossen – richtet ihre gesamte Politik konsequent auf dieses Ziel aus. Damit steht sie voll und ganz in der Tradition des bundesrepublikanischen Ordoliberalismus, also der staatlichen Garantie einer freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Ein makroökonomischer Kurswechsel steht nicht zur Debatte. Daran ändert auch die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten nichts.
Meinungsverschiedenheiten in der Koalition
Inhaltliche Differenzen existieren innerhalb der Bundesregierung weder hinsichtlich des übergeordneten Ziels, noch der Mittel, um es zu erreichen: Prinzipiell tragen sowohl der arbeitnehmerfreundliche CDA-Flügel der Union, als auch die überwiegende Mehrheit der SPD einen Kürzungskurs mit. Meinungsverschiedenheiten gibt es hinsichtlich der Frage, wie weit man gehen will. Für die SPD und bestimmte, zentristisch orientierte Teile der CDU (die aber innerhalb der eigenen Partei zunehmend marginalisiert werden) ist die Zielvorstellung, den Sozialstaat «gesundzuschrumpfen». Prinzipiell möchte man den Referenzrahmen einer sozial abgefederten Marktwirtschaft nicht verlassen, hält den bisherigen Umfang an Leistungen aber sowohl für nicht finanzierbar als auch für schädlich, was die gesellschaftliche Disziplin und Arbeitsmarktpartizipation angeht.
Diese Teile der Koalition möchten eine Formel wiederbeleben, die bereits unter den sozialdemokratischen Bundeskanzlern Helmut Schmidt und, in stärkerer Ausprägung, Gerhard Schröder zur Anwendung kam: Deutschlands Exportmodell wird durch eine Schwächung der Binnennachfrage und eine auf europäische Integration und den Abbau von Handelshemmnissen ausgerichtete Politik nach außen verteidigt. Die resultierende hohe Produktivität, niedrige Lohnstückkosten und vorteilhafte Terms of Trade werden zu einem gewissen Maß dazu herangezogen, die Sozialsysteme zu finanzieren.
Der konservative Flügel der CDU/CSU, der zunehmend den Ton angibt, will einen anderen Weg gehen. Diese Teile der Union gehören zu dem Teil der europäischen Elite, die den Sozialstaat grundsätzlich für schädlich halten und ihn beseitigen beziehungsweise auf das Niveau reicherer Schwellenländer reduzieren wollen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass es keine Transferleistungen oder Unterstützung für Bedürftige mehr gibt, sondern dass der Grundgedanke der sozialen Absicherung gegen Lebensrisiken sowie das Grundrecht auf soziale Teilhabe und Fürsorge unabhängig von der individuellen Lebenssituation und Schicksalsschlägen aufgegeben werden. Menschen sollen dem Sozialsystem stets als Bittsteller entgegentreten – und nur das Nötigste erhalten.
Die herrschende Klasse arbeitet im Eiltempo an einem neuen ökonomischen und politischen Projekt, das im Zuge der Faschisierung der Gesellschaft und dem Aufstieg der AfD umso gefährlicher erscheint.
Es ist daher wichtig, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalition vor diesem Hintergrund zu betrachten. Auch die SPD ist prinzipiell zu sozialen Einschnitten bereit – als Preis für die Stabilisierung der Kernleistungen des Sozialstaats. Große Teile der Union wollen einen völligen Systemwechsel. Als politisches Fernziel ist dies für deutsche und europäische Konservative nichts Neues, sie verfolgen es bereits seit den Siebziger und Achtziger Jahren. Zu Beginn ihrer Amtszeit ging Angela Merkel gerne mit dem Talking Point hausieren, dass in Europa weltweit die Hälfte aller Sozialabgaben gezahlt würden. Für sie war dies ein Beweis für den gesellschaftlichen Verfall und ein Problem an sich, nicht für die erfolgreichen Kämpfe der arbeitenden Klasse um die Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstands. In der Bundesrepublik lag es eher an bestimmten Faktoren, warum dieses Projekt hier noch nicht so weit fortgeschritten ist wie etwa in Großbritannien oder den Niederlanden. Den Regierungen Kohl und Merkel mangelte es an politischem Kapital, und das deutsche Modell lief zeitweilig so gut, dass sich tiefe Einschnitte in den Sozialstaat gegenüber der Bevölkerung schlicht nicht begründen ließen. Wir müssen davon ausgehen, dass sich diesbezüglich die politischen Koordinaten im dritten Jahr der Stagnation und bei einem 10-Jahres-Hoch der Arbeitslosigkeit gerade verschieben.
Die Krise des deutschen Modells
Angesichts der haushaltspolitischen Herausforderungen der Zukunft – eine alternde, zunehmend ungleiche Gesellschaft, die unter jahrzehntelangen unzureichenden öffentlichen und privaten Investitionen leidet – wären konsequente Schritte notwendig, um Milliardäre und Topverdiener stärker an der Finanzierung dieser Aufgaben zu beteiligen. Dies gilt sowohl für Investitionen als auch für konsumtive Ausgaben. Die SPD deutet auch zumindest rhetorisch an, dass eine Stärkung der Einnahmenseite notwendig sein wird. Außer einer moderaten Erhöhung der Reichensteuer auf sehr hohe Einkommen scheint jedoch kein politischer Wille vorhanden zu sein, sich etwa auch für eine Wiedereinsetzung der Vermögensteuer einzusetzen.
Die Elite der Bundesrepublik kann oder will die veränderten geopolitischen Realitäten nicht wahrnehmen.
Beide Ansätze zielen zudem darauf ab, das deutsche Exportmodell fortzuführen und zu stärken. Paradoxerweise sind sie dazu jedoch nicht geeignet. Auch hier wäre ein grundlegender Paradigmenwechsel erforderlich, für den derzeit nur die demokratisch-sozialistische Linke einsteht. Die Elite der Bundesrepublik kann oder will die veränderten geopolitischen Realitäten – sogar noch weniger als in manchen anderen westeuropäischen Ländern – nicht wahrnehmen und anerkennen. In Zeiten, in denen der US-amerikanische Staat zehn Prozent des Chipherstellers Intel kauft, ohne dass dies für großes Aufsehen sorgt, dürfte klar sein: Die Zeiten der Globalisierung in den 1990er und 2000er Jahren, in denen es für ein hochentwickeltes Land ausreichte, durch niedrige Lohnstückkosten zu glänzen, sind endgültig vorbei. In China können wir eine völlig neue Form der Verschränkung zwischen staatlicher Industriepolitik und Privatwirtschaft beobachten, die harte marktwirtschaftliche Konkurrenz mit den tiefen Taschen des Staats als Großinvestor kombiniert. Die US-amerikanische Elite hat erkannt, dass sie dieses Modell zumindest in manchen Bereichen kopieren muss, um mithalten zu können. Je nach parteipolitischer Ausrichtung werden andere Schwerpunkte gesetzt. Für Joe Biden gehörten erneuerbare Energien zu den Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts – für die Republikaner unter Donald Trump jedoch nicht. Bei Halbleitertechnologien oder künstlicher Intelligenz besteht aber ein überparteilicher Konsens.
Linke europäische Industriepolitik
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, bräuchte es eine eigenständige, souveräne europäische Industriepolitik, angefangen bei den Schlüsseltechnologien der Energiewende und einem eigenen, vollständig kontrollierten Digital Stack. Voraussetzung hierfür wäre ein gewaltiger wirtschaftlicher Kurswechsel, den Europas Eliten derzeit schlicht und einfach nicht vollziehen möchten. Damit wäre die Aufgabe ihres seit über 50 Jahren konsequent verfolgten Kürzungsprojektes verbunden – ein aus ihrer Sicht inakzeptabler Preis.
Die Linke steht zwar für eine solche Industriepolitik, jedoch nicht mit der politischen Zielsetzung, das europäische und deutsche Exportmodell retten zu wollen – ganz im Gegenteil. Für die Zukunft Europas ist es entscheidend, dass die Binnennachfrage zu einer wesentlich bedeutenderen Stütze der Gesamtwirtschaft wird. Schon alleine aufgrund der enormen zukünftigen gesellschaftlichen Bedarfe, etwa im Pflegebereich, wird dies unabdingbar sein. Dies bedeutet wiederum nicht, dass Europa in Zukunft keine weltmarktfähigen Produkte entwickeln und exportieren sollte – genauso wie es auch weiterhin viele Produkte importieren wird. Als Linke wollen wir, dass dies zu global fairen und auf einer ökologisch nachhaltigen technologischen Basis geschieht. Eine aktive Industriepolitik ist auch notwendig, um eine stärkere Binnennachfrage nicht verpuffen zu lassen: Der europäischen Autoindustrie ist zum Beispiel nicht geholfen, wenn die innereuropäische Nachfrage nach E-Autos anzieht, sie aber mit Importprodukten nicht mehr, oder nur durch die Errichtung langfristig untragbar hoher Handelsbarrieren, konkurrieren kann. Der Weg zurück zur Globalisierung der 2000er ist weder gangbar noch wünschenswert.
Militärischer Keynesianismus? Wohl kaum
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass die steigenden Militärausgaben in Europa gerade keinen Bruch mit der bisherigen neoliberalen Ausrichtung der EU signalisieren. Die Aufrüstung geschieht nach der Logik des Ausnahmezustands: Fiskalregeln werden suspendiert, aber nicht infrage gestellt. Das geschieht alles im Namen des Status Quo. Schon jetzt ist absehbar, dass diese Politik trotz kreditfinanzierter Sondervermögen zu enormen Druck auf die Sozialsysteme und den Kernhaushalt führt. Im Haushaltsausschuss erleben wir, wie Milliardenbeträge kurzerhand in die Bundeswehr investiert werden und alles unter den Bereich «Sicherheit» fällt, während um das Bürgergeld, das nur einen Bruchteil des Haushalts ausmacht, eine wochenlange Schlacht in den Medien geführt wird.
Für die herrschende Klasse sind Krieg und Aufrüstung deshalb nicht nur eine Krise, sondern auch eine Chance: Sie können den Sozialstaat endlich beerdigen und Errungenschaften zurückdrehen, die die Arbeiterklasse vor 70 oder 100 Jahren erkämpft hat. Die aktuelle Militarisierung fügt sich in dieses Projekt ein und befördert es, statt ihm im Weg zu stehen.
Der Sinn der Kürzung der Sozialausgaben besteht gerade nicht darin, die Gesamtnachfrage anzukurbeln, sondern sie zu dämpfen.
Es ist deshalb irreführend, von «Militärkeynesianismus» zu sprechen. Wir erleben in Europa keine Situation wie in den USA in den 1940er Jahren, als eine Expansion der Rüstungsproduktion als Teil eines politisch gesteuerten Klassenkompromisses mit institutioneller Beteiligung der Gewerkschaften und der arbeitenden Klasse stattfand. In Europa erleben wir einen Kürzungsstaat, der aufrüstet. Die Antwort der europäischen Eliten auf Kriege und geopolitische Konflikte ist die gleiche wie auf jede Krise. Der Sinn der Kürzung der Sozialausgaben besteht gerade nicht darin, die Gesamtnachfrage anzukurbeln, sondern sie zu dämpfen. Die Angriffe auf Arbeitsrechte und auf die Ärmsten sind ein Einschüchterungsversuch und ein politischer Klassenkampf von oben. Damit soll dem Aufrüstungskurs weitere Legitimität verliehen werden. Genauso wie andersherum die Aufrüstung als Legitimation dafür herhalten muss, damit alle «den Gürtel enger schnallen». Das ist genau das Gegenteil von dem, was Keynes in einer Wirtschaftskrise befürwortet hätte.
Deshalb ist es für uns als Linke von zentraler Bedeutung, die beispiellose Militarisierung, gepaart mit Angriffen auf den Sozialstaat, zu benennen und in einen Zusammenhang zu stellen. Die herrschende Klasse arbeitet im Eiltempo an einem neuen ökonomischen und politischen Projekt, das im Zuge der Faschisierung der Gesellschaft und dem Aufstieg der AfD umso gefährlicher erscheint. Auch demokratische Institutionen und Gewissheiten erodieren unter diesem politischen Kurs. Eine politische Linke braucht deshalb auch einen robusten wirtschaftlichen Plan, um diesem gefährlichen Kurs etwas entgegenzusetzen.