05. Oktober 2011   Aktuell

Haben die Regierungsparteien noch Niveau

by markusgaertner on 02/10/2011

Ich bin zurück in Vancouver. Bevor ich mich aber den üblichen Themen zuwende, will ich noch etwas aus der abgelaufenen Woche in Deutschland loswerden. Ich fand es zutiefst beschämend, ja erschütternd, auf welches Niveau die Demokratie in Deutschland gefallen ist.

Die Zensur von Parteien wie FDP und CDU gegen einige “Abweichler” (das Wort sagt eigentlich schon alles), die während der Debatte am Donnerstag am Reden gehindert werden sollten, hat mich an das Hinterzimmer-Gemauschel der Kommunistischen Partei in China erinnert, die ich für das Handelsblatt 1999 bis 2005 beobachten durfte, wo vor wichtigen Veranstaltungen wie dem jährlichen Nationalen Volkskongress genau so verfahren wird.

Maulkörbe für Abgeordnete passen nicht zu einer Demokratie. Wer sie verhängen will, sollte sein Mandat zurück geben.

Dass Bundestagspräsident Norbert Lammert den Mumm hatte, zwei Redner mit abweichender Meinung auftreten zu lassen, zeichnet ihn aus. Dass der Ältestenrat ihn dafür kritisierte und sein Vorgehen als “rechtswidrig” bezeichnete, illustriert eine dem Grundgesetz und dem Demokratie-Gedanken zuwiderlaufende Gesinnung, die daran zweifeln lässt, ob diese Leute überhaupt ins Parlament gehören. Ich denke, NEIN. – Bei der nächsten Wahl sollten Deutschlands Wähler sich daran erinnern.

Derartige Zweifel weckte bei mir auch die Aufsehen erregende ARD-Umfrage vor dem Parlament nach der Abstimmung am Donnerstag zu den Brüsseler Beschlüssen, bei der deutlich wurde, dass die Mehrheit der Parlamentarier keine genaue Vorstellung hat, was für deutsche Steuerzahler bei diesem Votum auf dem Spiel stand. Hinweise, die Abgeordneten könnten nicht sämtliche Details im Kopf haben, sind völlig unsinnig, denn es ging vor allem um jene Zahl, die wochenlang vor der Abstimmung in den Zeitungen herum gereicht wurde, jene 211 Mrd. Euro, mit denen deutsche Steuerzahler im Feuer stehen, die Zinsen gar nicht gerechnet. Und von dem Geld, das die EZB derzeit verbrennt, ist dabei noch gar keine Rede.

Zu den Ausbrüchen von Kanzleramtsminister Pofalla kann ich nur eines sagen: Der Kerl gehört nicht nur NICHT ins Kanzleramt, er gehört auch nicht in den Bundestag. Er gehört zurück auf die Schulbank, in den Sozialkunde-Unterricht – natürlich ohne Bezüge. - Vielleicht sollte man in irgendeiner ostdeutschen Stadt, in der sich bis heute besonders viele Uneinsichtige herumtreiben, eine politische Sonderzone einrichten, mit Mauer, Stacheldraht und einer von Kim Jong-il betriebenen Ideologieschule.

Dort könnte Pofalla Oberbürgermeister werden. Man dürfte ihn erst wieder rauslassen, nachdem er – wie in China üblich – eine Erklärung unterschrieben hat, in der er seine Fehler aufzählt und bereut. Dann könnte man ihn unter Abzug seiner Pensionsansprüche wieder auf das Volk loslassen, aber auch nur zur Probe.

Es fällt mir schwer zu verstehen, wie nach 5 Jahrzehnten Bundesrepublik solches Denken möglich ist, ganz abgesehen von den Mobbing-Tiraden, die sich der Mann erlaubt hat. Diese verraten nicht nur ein schwerwiegendes Demokratie-Defizit, sondern auch eklatante Charakterschwächen. Solchen Leuten würden manche Sozialämter nichtmal ein Kind zur Adoption geben, geschweige denn ein Abgeordnetenmandat, das zu weitreichenden Entscheidungen ermächtigt.

Auf dem Rückweg nach Vancouver las ich dann auch noch im Flieger die WELT-Geschichte über Silvana Koch-Mehrin, die im EU-Parlament durch ständige Abwesenheit glänzt. Abgesehen davon, dass gegen die Frau auch schwerwiegende Plagiatsvorwürfe im Raum stehen, rundet ihre Geschichte das Bild vollends ab. Um es ganz klar zu sagen: Wer sich von erwachsenen Bürgern für einen Job im Parlament wählen lässt und dann durch Abwesenheit in den Ausschuss-Sitzungen glänzt, der begeht in meinem Verständnis schlicht Betrug. Er hat – sorry, SIE – hat die Wähler getäuscht und betrogen.

Das also sind Abgeordnete, die den Gang der Dinge im schulden-verkrebsten Europa mitgestalten und die Attacke der Kasino-Mafia gegen unsere Demokratien abwenden müssen, bevor es zu Unruhen kommt. Mobben, pöbeln, fehlen, ignorieren: Das ist ein Cocktail, das eines ganz bestimmt nicht erlaubt: Ein striktes Vorgehen gegen die größte Wirtschafts- und Schuldenkrise seit den 30er Jahren.

Wenn es in den vergangenen Monaten je etwas gab, das mir einleuchtend erklärte, warum Europas Regierungen der Krise nicht Herr werden, dann waren es die Zeitungen vom Freitag und dem Wochenende.

Nur für den Fall, dass mir hier jemand vorwirft, ich täte vielen Abgeordneten Unrecht: Alle diejenigen, die sich nur lauwarm oder gar nicht gegen die jüngsten Fälle von Zensur und Mobbing stark gemacht haben – und das sind die meisten – sind keinen Deut besser als die Pöbler und Zensierer selbst.

Wer im Gral der Demokratie, dem Parlament, keine freie Diskussion zulassen will, oder deren Einschränkung duldet – ganz gleich aus welchen Gründen – disqualifiziert sich umfassend für jeden Job, in dem das Wahlvolk irgendwie vertreten wird. Die Strafe dafür sollte Rückzahlung der Diäten sein sowie unehrenhafte Entlassung aus dem Dienst. – Natürlich geht das aus bekannten Gründen nicht. Doch die Wähler haben es bei der nächsten Wahl in der Hand, die rote Karte zu zücken. Wir sollten uns einen Sport daraus machen.

Die hier gescholtenen machen sich aber noch eines weiteren krassen Fehlverhaltens schuldig: Sie leisten all jenen Kräften Auftrieb, die in das Vakuum vorstoßen wollen, das sich durch die Implosion des Vertrauens in unsere Institutionen bildet. Gleich, welche Kräfte und Organisationen dort in Zukunft hineinstoßen werden, es wird ihre Verantwortung sein. Und dafür sollte man die Pofallas, Koch-Wehrins – und wie sie alle heißen – beizeiten zur Rechenschaft ziehen.

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