04. April 2020   Aktuell

DIE LINKE. im Bundestag: Infektionsschutzverordnungen - Verfassungsmäßigkeit kritisch hinterfragen

Machtbalance in Schieflage

Im Wortlaut von André Hahn, stellvtr. Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

neues deutschland, 01. April 2020

 Denn die Verfügungen, mit denen die körpernahen sozialen Kontakte minimiert werden sollen, schränken Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Berufsausübungsfreiheit und nicht zuletzt die Freiheitsrechte aus Artikel 2 des Grundgesetzes in einem Umfang ein, wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist deshalb auch und gerade die Aufgabe der Linken, diese Maßnahmen kritisch zu hinterfragen.

Im Kampf gegen das Coronavirus greifen Landesregierungen und Landratsämter zu einschneidenden Maßnahmen, die das öffentliche Leben weitgehend stilllegen. Für viele Menschen geht der Shutdown mit sozialen Nöten und der Angst um die wirtschaftliche Existenz einher. Zugleich werfen die auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes erlassenen Verordnungen - so berechtigt das mit ihnen verfolgte Anliegen auch sein mag - teils erhebliche Bedenken im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit auf.

 

Ob die massiven Grundrechtseingriffe überhaupt auf einer hinreichenden Ermächtigungsnorm beruhen, ist auch nach den jüngsten Ergänzungen im Infektionsschutzgesetz nicht zweifelsfrei geklärt. Doch gerade intensive Eingriffe in die Bürgerrechte erfordern eine transparente gesetzliche Grundlage, die Voraussetzungen, Reichweite und die Dauer der angeordneten Maßnahmen klar regelt. Zudem müssen sich diese Maßnahmen am Gebot der Verhältnismäßigkeit messen lassen.

Als erstes Bundesland hat Bayern landesweite Ausgangsbeschränkungen erlassen. Das Verlassen der Wohnung »ohne triftigen Grund« ist dort untersagt und kann empfindliche Bußgelder nach sich ziehen.

Andere Bundesländer, etwa Berlin, sind dem bayerischen Vorbild gefolgt. Dabei hätte es Mittel gegeben, die weniger einschneidend sind: In Nordrhein-Westfalen etwa wird der Fokus auf Kontakteinschränkungen in der Öffentlichkeit gelegt. Wenn zudem die gerichtliche Überprüfung der bayerischen Maßnahme erschwert ist, weil der Gang zu den Gerichten kein von der Verordnung anerkannter »triftiger Grund« ist, wirft dies ernste rechtsstaatliche Bedenken auf.

Fakt ist:

Zahlreiche Menschen sind derzeit verunsichert und verängstigt. Die beklemmenden Bilder aus Norditalien und die Meldungen über die auch in Deutschland steigenden Infektionszahlen zeigen, dass das Virus sehr ernst zu nehmen ist und in kurzer Zeit auch ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem überfordern kann. Es ist daher unbestritten, dass für die effektive Bekämpfung der Pandemie Maßnahmen ergriffen werden müssen, die einschneidend sein können. Doch genauso muss klar sein, dass auch in solchen Krisenzeiten das grundgesetzliche Gefüge der Grund- und Freiheitsrechte beachtet und die Machtbalance der Staatsgewalten gewahrt werden muss.

Dieses Gleichgewicht ist in den vergangenen Wochen in eine bedenkliche Schieflage geraten. Bundes- und Landesministerien geben Ton und Tempo im Kampf gegen das Coronavirus vor. Eine wirksame parlamentarische Kontrolle ist angesichts der Rahmenbedingungen kaum noch möglich.

Doch nicht nur das: Mit einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes ermächtigte der Bundestag das Gesundheitsministerium zu weit reichenden Maßnahmen bei epidemischen Lagen, die tief in Länderzuständigkeiten eingreifen. Das Ministerium darf sich zudem per Rechtsverordnung über Bestimmungen des Gesetzes hinwegsetzen - auch das ein beispielloser Vorgang, den der Staatsrechtler Thorsten Kingreen gar als »Hindenburg-Klausel« bezeichnet.

Die Linke hat diesen Maßnahmen zu Recht nicht zugestimmt.

Wir als Abgeordnete müssen jetzt darauf drängen, dass die Parlamente wieder deutlicher als Akteure wahrnehmbar sind.

Nicht zuletzt brauchen wir einen demokratischen Diskussionsprozess darüber, welche Einschränkungen wir für die Überwindung der Coronakrise hinzunehmen bereit sind, zumal nicht absehbar ist, wann die aktuellen Maßnahmen aufgehoben werden können und die Pandemie überwunden sein wird.

Dieser Prozess darf nicht Krisenstäben und Staatskanzleien überlassen werden. Diese Debatten müssen in der Zivilgesellschaft geführt und in den Parlamenten entschieden werden.

Ich meine: Entwicklungen wie in Ungarn, wo die Orban-Regierung unbefristet fast schrankenlose Machtbefugnisse besitzt und die Verfassung ignorieren kann, dürfen wir hierzulande niemals zulassen.

neues deutschland, 01. April 2020

 

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