Selbstentmachtung von Bundestag und Bundesrat im Infektionsschutzgesetz
Quelle: Grundrechte Report 2021 zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Anna-Lena Hollo
Mit den Coronaschutzmassnahmen gehen die umfangsreichsten Grundrechteinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik einher.
Sie erfolgen hauptsächlich durch die Exekutive von Bund und Ländern auf dem Verordnungswege. Betroffen sind dabei insbesondere das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 satz 1 GG), die Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 und 2 GG), das Grundrecht auf Freizügigkeit (Artikel 11 GG) und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Absatz 1 i. V. m. Artikel 1 Absatz 1 GG). Dabei stellt sich angesichts der Eingriffsintensität nicht nur die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, sondern auch die, ab solche einschneidenden Regelungen durch den Verordnungsgeber erlassen werden dürfen. Wichtigsten An- und Verordnungsermächtigungen für die Schutzmaßnahmen sind im Infektionsschutzgesetz (IfSG) geregelt. Das IfSG wurde 2020 dreimal neugefasst. Der Streit darüber, ob es verfassungsmäßig ist, dass die Exekutive Corona-Maßnahmen auf dem Verordnungswege ohne den parlamentarischen Gesetzgeber erlässt, wurde dabei aber nicht befriedet.
Wesentlichkeits- und Bstimmtheitsgrundsatz als Grenze
Die Grenze für die Übertragung von Regelungsbefugnissen auf die Exekutive wird auf den Wesentlichkeitsgrundsatz gezogen. Dieser gibt vor, dass Regelungen, besonders intensiv in Grundrechte eingreifen, dem Parlament vorbehalten bleiben müssen (Parlamentsvorbehalt). Wenn intensiv in Grundrechte eingegriffen werden soll, darf das nur durch denjenigen erfolgen, der von den Betroffenen direkt gewählt worden ist. Je näher ein staatliche Regelung an grundrechtssensibele Bereiche gelangt, desto enger und unmittelbarer muss das verknüfende Band hzwischen demjenigen, der die Regelung erlässt, und den von dieser Regelung Betroffenen sein. Das Grundgesetz gibt darüber hinaus in Artikel 80 Bas. 1 Satz 2 vor, dass der Gesetzgeber selbst Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung für den verordnungsgeber durch ein Gesetz bestimmen muss. Diese soll sicherstellen, dass der Gesetzgeber bei einer Überragung seiner Gesetzgebungsbefugnis auf die Exekutive die Fäden in der Hand behält und Verodnungsermächtigungen stets nur für begrenzte, exakt bestimmte Regeleungsbereiche erteilt.
Bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite
Zum 28. März 2020 wurde § 5 Absatz 1 IfSG unter dem Eindruck der Corona-Pandemie erstmals geändert. Seitdem kann der Deutsche Bundestag "eine epidemische Lage von nationaler Tragweit" feststellen. Noch am selben Tag traf der Bundestag diese Feststellung. Zunächst war im Gesetz nicht näher definiert, wann eine solche lage vorliegt. Erst durch die dritte Änderung des IfSG zum 19. November 2020 wurden endlich die materiellen Voraussetzungen für das Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweit in § 5 Absatz 1 Satz 4 IfSG verankert.
Zeitgleich mit der ersten Änderunhg des § 5 Absatz 1 IfSG 2020 wurde dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) für den Fall einer vom Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweit in § 5 Absatz 2 Satz 1 Nr. 1-10 IfSG ein umfassendes Anordnungs- und Verordnungsrecht erteilt. Es erstreckte sich auf Einreisebestimmung, Beförderungsbedingungen im grenzüerschreitenden Reiseverkehr wie die Früherkennung von Kranken, Krankheits- und Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern, den Infektionsschutz bei bestimmmten Einrichtungen, Unternehmen und Beschäftigten sowie bestimmte Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln, zur Aufrechterhaltung der -gesundheitsversorgung in ambulanten Praxen, derpflegerischen Versorgung in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen und schließlich auf abweichenden Regelungen von den Berufsgesetzen der Gesundheitsbehörde. Für solche Anordnungen und Rechtsverordnungen bedurfte das BMG weder der Zustimmung der Bundesregierung noch des Bundesrates. Dadurch war im Fall einer festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Gesetzegebungskompetenz der originär dafür zuständigen Legislative auf die Exekutive verlagert worden.
Die Rechtsetzungskompetenz des Gesetzgebers wurde erst wiederhergestellt, wenn die Feststellung der epidemischen Lage aufgehoben wurde. Die unbestimmte Weite der An- und Verordnungsermäctigungen und die durch sie ermöglichten intensiven Grundrechtseingriffe haben berechtigten Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufkommen lassen. Diese spezialgesetzlichen Regelungen, von denen durch den Verordnungsgeber abgwichen werden durfte, umfassten weit mehr als 1000 Paragraphen. Von einer engen Umgrenzung der Rechtsverordnungsbefugnisse dem BmG konnte deshalb keine Rede sein.
Wurde die Selbstentmachtung beseitigt?
Mit dem Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung vor epidemischen Lagen nationaler Tragweite vom 19. Mai 2020 wurden die im Gesetz vom 27. März 2020 getroffenen Regelungen und Maßnahmen weiterentwickelt und ergänzt. Zwar war auch § 5 IfSG davon betroffen, jedoch wurde an der Reichweite der An- und Verordnungsermächtigung trotz weitverbreiteter Kritik nichts geändert.
Anders war dies im Rahmen der dritten Änderung des IfSG durch das am 18. November 2020 beschlossene Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite.Zunächst wuden in § 5 Absatz 1 Satz 4 IfSG endlich die Voraussetzungen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite definiert. Besonders bedeutscam ist ferner die ersatzlose Streichung der weitereichendsten und am stärksten kritisierten Verordnungsermächtigung zum Abweichen von Vorschriften des IfSG selbst (ehemals § 5 Absatz 1 Nr. 3 IfSG). Die offentsichtlichste Selbstentmachtung des Gesetzgebers wurde damit in der Tat beseitigt. Dennoch umfassen die verbleibenden Abweichungsbefugnisse nach wie vor eine deutlich zu grooße Zahl an Normen (etwa des Fünften und des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs), wodurch noch immer eine bedenkliche Verbschiebung der Gewalten besteht, die die Vereinbrkeit mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung bezweifeln läßt.
Durch die dritte Änderung des IfSG 2020 hat der Gesetzugeber - ohne es offiziell zuzugeben - den Willen gezeigt, auf die Bedenken hinsichtlich der Gewaltenverschiebung durch § 5 Absatz 2 IfSG zu reagieren. Die Reaktion ist aber nur halbherzig ausgefallen. Dem größten Kritikpunkt wurde zwar die Grundlage entzogen; jedoch ist die gesetzgeberische Spielwiese derExekutive durc die verbleibenden Legislativbefugnisse in § 5 Absatz 2 IfSG noch immer groß genug, um an der Warnung vor einer Selbstentmachtung der Legislative im Falle der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite festzuhalten.
Anmerkung der Redaktion:
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