22. September 2025   Aktuell

Kontinuierliche Katastrophe: Leben im Westjordanlan

Ein palästinensischer Junge blickt vom Dorf Sebastia aus über das Westjordanland. An dieser Stelle hissen israelische Siedler*innen immer wieder die israelische Flagge, um Anspruch auf das Land zu erheben. (öffnet Vergrößerung des Bildes)

Ein palästinensischer Junge blickt vom Dorf Sebastia aus über das Westjordanland. An dieser Stelle hissen israelische Siedler*innen immer wieder die israelische Flagge, um Anspruch auf das Land zu erheben. Foto: Sherin Kulitz

Sherin Kulitz ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Syrien, den Libanon, Israel, Palästina und die nordafrikanischen Staaten.


Beitrag: Rosa-Luxemburg-Stiftung, von Sherin Kulitz

Östlich des israelischen Staatsgebietes und westlich des Flusses Jordan liegt das Westjordanland, die Heimat von 3,3 Millionen Palästinenser*innen. Über eine Fläche von 5.660 Quadratkilometern erstrecken sich Olivenhaine, Teile des Toten Meeres, Städte, Dörfer und Täler – eine Landschaft, die auf den ersten Blick idyllisch wirkt. Doch die Haine sind von Brandstiftung gezeichnet, und der Zugang zum Toten Meer ist eingeschränkt. Dörfer wie Städte werden immer wieder von Zerstörung und Gewalt heimgesucht. Im Westjordanland greifen die Gewalt israelischer Sieder*innen und staatliche Repression ineinander – mit dem erklärten Ziel, Palästinenser*innen zu vertreiben und ihr Land zu annektieren.

Sherin Kulitz ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Syrien, den Libanon, Israel, Palästina und die nordafrikanischen Staaten.

Am 23. Juli 2025 verabschiedete die israelische Knesset eine symbolische Resolution unter dem Titel «Anwendung der israelischen Souveränität in Judäa, Samaria und im Jordantal». Das Parlament erklärte das Westjordanland mit 71 zu 13 Stimmen zu einem «untrennbaren Teil des Landes Israel» und berief sich auf einen angeblich «natürlichen, historischen und rechtlichen Anspruch des jüdischen Volkes» auf alle Gebiete. Auch wenn diese Resolution keine Rechtskraft besitzt, zeigt sie doch, was längst Realität ist: Seit vielen Jahrzehnten treiben sämtliche israelische Regierungen eine Politik der schrittweisen, systematischen Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete voran. Das Westjordanland ist hiervon nicht ausgenommen.

Israels Annexionspolitik seit 1967

 

Am 5. Juni 1967 griff Israel Ägypten an. Ein sechstägiger Krieg war die Folge, in dem Israel etliche Gebiete unter seine Kontrolle brachte: die Sinai-Halbinsel Ägyptens, die Golanhöhen Syriens, den Gazastreifen, der sich zuvor unter ägyptischer Verwaltung befand, sowie das Westjordanland und Ost-Jerusalem, das bis dato der Hoheitsmacht Jordaniens unterstand. Im Westjordanland errichtete Israel eine Militärverwaltung – mit Ausnahme Ost-Jerusalems. Dieses wurde im Juni 1967 de facto annektiert; 1980 formalisierte die Knesset die völkerrechtswidrige Annexion. Rund 70 Quadratkilometer Westjordanland wurden in die Jerusalemer Verwaltungsgrenzen – und somit in das israelische Staatsgebiet – eingegliedert. Dieser Schritt markierte den Beginn der schrittweisen Annexion.

Seitdem hat jede israelische Regierung erhebliche Ressourcen in den Ausbau der Siedlungen in den besetzten Gebieten investiert und den kontinuierlichen Zuzug jüdischer Siedler*innen subventioniert. Infolge dieser Politik leben heute etwa 750.000 israelische Siedler*innen im besetzten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem – Tendenz steigend.

Für den Bau neuer Siedlungen lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden. Die erste folgt dem Muster der «Bottom-up»-Strategie: Ohne Genehmigung errichten Anhänger*innen der nationalreligiösen israelischen Siedlerbewegung provisorische Strukturen – sogenannte Außenposten. Die Bewegung wird von der international sanktionierten Daniella Weiss angeführt und von Israels rechtsextremem Finanzminister, Bezalel Smotrich, unterstützt. Die Siedler*innen werden von der israelischen Armee geschützt und begleitet, während sie regelmäßig Angriffe auf die lokale Bevölkerung verüben mit dem Ziel, diese zu vertreiben. Nach der erfolgreichen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung wachsen die Außenposten zu vollwertigen Siedlungen heran und werden nachträglich vom Staat legalisiert. 

Die zweite Vorgehensweise entspricht einer «Top-down»-Strategie: Siedlungsprojekte werden bereits vor Baubeginn von der Regierung genehmigt und umgesetzt, die Besiedlung sogar staatlich gefördert. Während bei der ersten Variante die Siedler*innen die Vorhaben vorantreiben, folgt die zweite einem strategischen Kalkül des Staates; in der Wirklichkeit sind beide meist eng miteinander verzahnt.

Ein Beispiel für die erste Vorgehensweise bietet das Dorf Khirbet Khilet al-Dabein der Region Masafer Yatta im Süden des Westjordanlands. Am 5. Mai 2025 rückten zwei israelische Siedler mit Baggern aus der nahe gelegenen illegalen Siedlung Havat Maon an, wie vor Ort zu beobachten war. Unter dem Schutz des israelischen Militärs zerstörten sie ohne Genehmigung neun von zehn Häusern, vier Ställe und zehn Wassertanks. Sie kappten die Internetverbindung und demontierten die einzige Solaranlage. 49 Menschen, darunter 27 Kinder und Jugendliche, wurden obdachlos. Die Bewohner*innen errichteten notdürftige Zelte; kurz darauf rückten Siedler*innen und Militär erneut vor und zerstörten auch diese.

Ein Dorfbewohner von Khilet Al-Dabe’ versucht die Trümmer seines Hauses wegzuräumen, nachdem israelische Siedler*innen dieses gemeinsam mit der Armee abgerissen haben. Der Einsatz von Hilfsgeräten und Baggern wird ihnen von der israelischen Armee verwehrt. (öffnet Vergrößerung des Bildes) Ein Dorfbewohner von Khilet Al-Dabe’ versucht die Trümmer seines Hauses wegzuräumen, nachdem israelische Siedler*innen dieses gemeinsam mit der Armee abgerissen haben. Der Einsatz von Hilfsgeräten und Baggern wird ihnen von der israelischen Armee verwehrt. Foto: Sherin Kulitz

Parallel steigt die Zahl neuer Außenposten, die Khilet Al-Dabe’ umgeben. Ein Einwohner, der anonym bleiben möchte, erzählt, dass mittlerweile zehn illegale Außenposten rund um das Dorf herum bestehen. Unter den Siedler*innen werde bereits ausgehandelt, wer welches Landstück im Dorf bekomme. 

Obwohl die meisten Einwohner*innen weiterhin entschlossen sind, ihr Land nicht aufzugeben, zehrt die ständige Konfrontation mit den illegalen Siedler*innen zunehmend an ihren Kräften. Erst am 5. September überfielen israelische Bewohner*innen der Außenposten das Dorf erneut. Im Anschluss mussten zehn Einwohner*innen mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden; die jüngste von ihnen war gerade einmal vier Monate alt. In vielen Dörfern haben die Siedler*innen auf diese Weise bereits die Vertreibung der Bevölkerung erreicht.

Die zweite Vorgehensweise folgt einem strategischen Vorgehen: Die israelische Regierung wählt gezielt Gebiete, die palästinensische Städte und Dörfer voneinander abschneiden, für neue Siedlungen aus. Das Passieren dieser Siedlungen ist Palästinenser*innen nicht gestattet. Zusammenhängende Gebiete werden auf diese Weise zerschlagen und voneinander isoliert.

Am 14. August 2025 gab der israelische Finanzminister Smotrich das jüngste Siedlungsprojekt bekannt, das diesem Verfahren folgt. Der Plan, die Siedlung Ma’ale Adumim im Nordosten Jerusalems mit Ost-Jeruslaem zu verbinden, existiert bereits seit den 1990er Jahren; die Umsetzung stellte allerdings bislang eine rote Linie dar. Smotrich verkündete nun, dass US-Präsident Donald Trump und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der Renaissance des Planes zum Bau von mehr als 3.400 Wohneinheiten auf einer Fläche von zwölf Quadratkilometern in der Zone East1 (E1) zwischen dem Nordosten Jerusalems und der illegalen Siedlung Maale Adumim zustimmten.

Durch die neuen Wohneinheiten sollen Siedlungen im annektierten Ostjerusalem mit dem expandierenden Siedlungsblock Maale Adumim im besetzten Westjordanland verbunden werden. Wird das Projekt umgesetzt, wird Ost-Jerusalem – das Palästinenser*innen als Hauptstadt ihres zukünftigen Staates beanspruchen – vollständig vom übrigen Westjordanland abgeschnitten und der Rest des Landes zweigeteilt. Wollen Palästinenser*innen aus dem nördlichen Ramallah etwa in das südliche Al-Khalil fahren, müssten sie im Falle der Umsetzung Genehmigungen bei den israelischen Behörden beantragen, um das Gebiet passieren zu dürfen. Für das Fahren nach Ost-Jerusalem ist eine solche Genehmigung bereits jetzt erforderlich, jedoch werden diese kaum noch erteilt.

Smotrich stellte in seiner Rede am 14. August das Ziel der Operation klar: Er möchte die «Idee eines palästinensischen Staates begraben». Am 11. September setzte Ministerpräsident Netanjahu bei einer symbolischen Zeremonie in Ma’ale Adumim seine offizielle Unterschrift unter den Plan. «Wir werden unser Versprechen einlösen, dass es keinen palästinensischen Staat geben wird; dieser Ort gehört uns», erklärte er.

Die israelische Menschenrechtsorganisation BTselem berichtet, dass die Errichtung von Siedlungen im Westjordanland gegen das humanitäre Völkerrecht verstoße. Damit steht sie nicht alleine, auch der UN-Sicherheitsrat und der Internationalen Gerichtshof sehen das so, sogar die deutsche Bundesregierung hat sich dem angeschlossen. Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention verbietet einer Besatzungsmacht, eigene Staatsbürger*innen in das besetzte Gebiet zu transferieren.

Siedlergewalt im Westjordanland

Mit der Siedlungs- und Annexionspolitik verstößt Israel nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen die Menschenrechte. Die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlands ist täglich Gewalt ausgesetzt; seit dem 7. Oktober gab es im besetzten Westjordanland pro Tag durchschnittlich vier dokumentierte Vorfälle von Siedlergewalt gegen Palästinenser*innen. Die meisten davon bleiben für die Aggressor*innen folgenlos.

Dieser starke Anstieg hängt mit der Aufrüstungspolitik des rechtsextremen Sicherheitsministers, Itamar Ben-Gvir, seit dem 7. Oktober 2023 zusammen: 230.000 neue Waffenscheine wurden seither für Israelis ausgestellt. Das Ministerium bestätigte zudem im Oktober 2024, dass über 120.000 Waffen an «Zivilist*innen» verteilt worden seien, die meisten davon Siedler*innen im Westjordanland, rund um Gaza und entlang der libanesischen Grenze. Diese zunehmende Militarisierung der jüdisch-israelischen Bevölkerung setzt, in Kombination mit der mangelnden strafrechtlichen Verfolgung von Übergriffen gegen Palästinenser*innen, ein fatales Signal: Wer Palästinenser*innen angreift, wird vom israelischen Staat geschützt.

Besonders deutlich wird dies am Schicksal von Zakaria Al-Adra: Der 30-jährige Familienvater ist einer von vielen, die die brutale Gewalt der Siedler*innen am eigenen Leib erfahren mussten. Am 13. Oktober 2023 verließ er nach dem Freitagsgebet die Moschee seines Dorfes At-Tuwani, gelegen in den Südlichen Hebronbergen, als er von Schreien empfangen wurde. Ein bewaffneter illegaler Siedler war, begleitet von israelischen Soldat*innen, mit einem Sturmgewehr ins Dorf eingedrungen und schrie die Bewohner*innen an, sie sollten das Dorf verlassen. Zakaria ging dazwischen. Nach einem kurzen Gerangel trat der Siedler ein paar Schritte zurück, richtete seine Waffe auf Zakaria und drückte ab. «Mir wurde schwarz vor Augen.» An die folgenden Stunden hat Zakaria keine Erinnerung. 

Das israelische Militär kontrollierte zum Zeitpunkt des Geschehens die Dorfzufahrten und ließ den Krankenwagen nicht passieren. Es waren Zakarias Nachbarn, die den schwer Verwundeten über Schleichwege ins Krankenhaus brachten. Erst dort wurde das Ausmaß seiner Verletzung ersichtlich. Bei dem Geschoss handelte es sich um ein sogenanntes «Dum-Dum»-Projektil. Weil diese im Körper zersplittern, um maximalen Schaden anzurichten, sind sie völkerrechtlich verboten; ihr Einsatz gilt als Kriegsverbrechen. 

In diesem Fall wurde indes nicht der Schütze belangt, sondern Zakaria. Nach Angaben der israelischen Polizei soll der vierfache Familienvater am besagten Tag zusammen mit anderen Personen randaliert und Steine geworfen haben, bevor er angeschossen wurde. Obwohl ein Video das Gegenteil beweist – es zeigt, dass Zakaria keinerlei Gefahr für den Siedler darstellte –, entgegnete ihm die Polizei: «Uns ist egal, was du sagst. Wir folgen dem, was der Siedler verlangt.» Und das war die Inhaftierung Zakarias. Erst nach Entrichtung eines Betrags von 1.000 Shekel (rund 260 Euro) sei er entlassen worden, berichtet Zakaria.

Seither musste er sich 14 Operationen unterziehen, bei denen 20 Zentimeter seines Darms, die Hälfte der Bauchspeicheldrüse und die gesamte Milz entfernt wurden. Darüber hinaus versorgten die Ärzt*innen seine verletzte Herzarterie und mehrere gebrochene Rippen. Zakarias Überleben gilt den Ärzt*innen als Wunder – doch sein Alltag bleibt ein Kampf. Laufend muss er sich Operationen unterziehen, ist arbeitsunfähig und steht vor dem finanziellen Ruin. Währenddessen bewegt sich der Siedler, der ihn angeschossen hatte, auf freiem Fuß.

Zakaria Al-Adra zeigt die Narben seiner Schussverletzung und der darauffolgenden Operationen. Zwei seiner Rippen sind noch immer gebrochen und drücken auf seine Organe. (öffnet Vergrößerung des Bildes)

Zakaria Al-Adra zeigt die Narben seiner Schussverletzung und der darauffolgenden Operationen. Zwei seiner Rippen sind noch immer gebrochen und drücken auf seine Organe. Foto: Sherin Kulitz

Obwohl At-Tuwani im palästinensischen Westjordanland liegt, hat Zakaria keine Möglichkeit, sich an die palästinensischen Behörden zu wenden. Grund dafür ist das Oslo-II-Abkommen von 1995, das eigentlich die Zwei-Staaten-Lösung schrittweise vorbereiten sollte. In der Realität aber dient es vor allem als ein weiteres Instrument der Besatzungsmacht zur Sicherung ihrer Kontrolle über das Westjordanland.

Das Oslo-II-Abkommen teilt das Westjordanland in drei Verwaltungszonen auf: Zone A (18Prozent) steht offiziell unter palästinensischer Selbstverwaltung und bildet das Kernland der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Regierungssitz in Ramallah. Zone B (22 Prozent) unterliegt auf dem Papier einer gemeinsamen Kontrolle, wird in der Praxis jedoch weitgehend von der israelischen Armee beherrscht. Zone C, zu der auch At-Tuwani gehört, macht fast 60Prozent des Westjordanlands aus. Hier übt Israel mit Verweis auf seine Sicherheitsinteressen uneingeschränkte militärische, zivile und rechtliche Kontrolle aus. Für die palästinensische Bevölkerung der Zone C bedeutet das: Wer Schutz sucht, muss sich an israelische Behörden wenden – doch in den meisten Fällen wird dieser Schutz verweigert.

Als einzige Option bleibt den Palästinenser*innen dann, sich an israelische Menschenrechtsorganisationen wie Yesh Din zu wenden, die in den besetzten Gebieten Rechtsbeistand leisten. Doch die Erfolgsaussichten bleiben gering: Laut ihrem Bericht vom Dezember 2024 endeten in den letzten zwanzig Jahren 93,8 Prozent aller untersuchten Fälle von «Siedlergewalt» ohne Anklageerhebung. Obschon das internationale Recht wie auch die Rechtsstaatlichkeit in Israel vom Staat verlangen, Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten vor Gewalt und rechtswidrigen Handlungen zu schützen, kommt Yesh Din in dem erwähnten Bericht zur Schlussfolgerung, «dass Israel nicht willens ist, ideologisch motivierte Verbrechen durch Israelis zu verhindern oder zu stoppen.» Auch seiner Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung kommt der Staat in diesen Fällen nicht nach.

Der Angriff auf Zakaria verdeutlicht, wie staatliche Repression und Siedlergewalt im Westjordanland ineinandergreifen. Gleichzeitig verdeutlicht die Blockade des Krankenwagens Israels umfassende Kontrolle der Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen. Gerade diese Einschränkung ist eines der wichtigsten Instrumente, mit denen Israel seine Besatzungsherrschaft in den besetzten Gebieten durchsetzt. 

Die Bewegungs(un)freiheit der Palästinenser*innen

Im Westjordanland entscheidet das Nummernschild darüber, ob Straßen verbinden oder trennen. Fahrzeuge mit gelbem, israelischem Kennzeichen können sich frei bewegen. Fahrzeuge mit weiß-grünem, palästinensischem Kennzeichen hingegen dürfen viele Straßen nicht befahren. Aus kurzen Wegen von wenigen Minuten werden so Umwege, die oftmals Stunden dauern. Das israelische Menschenrechtszentrum BTselem bezeichnet dieses System in einem Bericht als «Regime der verbotenen Straßen». Dieses Regime basiert auf der Annahme, dass alle Palästinenser*innen ein Sicherheitsrisiko darstellten und deshalb ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden müsse. Diese Logik trifft die gesamte Bevölkerung unterschiedslos und verletzt damit Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der jedem Menschen das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb eines Staates garantiert.

Hinzu kommt: Auch die Straßen, die Palästinenser*innen nutzen dürfen, sind von Checkpoints und Blockaden durchzogen. Anfang 2023 dokumentierte das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) 565 Bewegungshindernisse im Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalems. Dazu gehören 49 ständig vom israelischen Militär oder privaten Sicherheitsfirmen besetzte Checkpoints, 139 gelegentlich besetzte Checkpoints, 377 Straßensperren, Erdwälle, Straßentore und Gräben. Zudem errichtet die Armee laufend weitere Hindernisse; das palästinensisch-israelische Magazin +972 berichtet inzwischen von rund 900 solcher Blockaden und Checkpoints. Letztere werden willkürlich geöffnet oder geschlossen – manchmal für Stunden, manchmal für Tage. Soldat*innen an den Kontrollpunkten entscheiden damit buchstäblich über Leben und Tod – so auch in Mundal Jubrans Fall.

Jeden Tag ging der 40-jährige Familienvater Mundal Jubran verlässlich zu seiner Arbeit in dem Gewürzladen seines Vaters in Azzariyeh, nur wenige Kilometer von Ost-Jerusalem entfernt. Doch am 1. August 2023 fühlte er sich nicht gut. Was mit einem mulmigen Gefühl anfing, führte schnell zu Zuckungen des Mundes, schmerzenden Wangen und undeutlicher Sprache. Während seine Familie auf den Rettungswagen wartete, verschlechterte sich Mundals Zustand rapide. Schaum bildete sich vor seinem Mund. 

Nach fünf Minuten traf der Rettungswagen ein und brachte ihn zur Ambulanzklinik des Makassed-Krankenhauses im nahegelegenen Abu Dis, wo ein Arzt die Sanitäter anwies, Mundal sofort ins Makassed-Krankenhaus in Ost-Jerusalem zu bringen. Der diensthabende Arzt der Klinik begleitete den Transport und versuchte sich auf dem Weg zum Krankenhaus mit den israelischen Polizist*innen am Checkpoint abzustimmen, um ein schnelles Passieren zu ermöglichen – vergeblich.

Mit Blaulicht und Sirene fuhr der Krankentransport in den Checkpoint ein, wo das Grenzpersonal den Fahrer anwies, in den Sicherheitskontrollbereich abzubiegen. Der Fahrer stieg aus, um mit dem Polizisten zu sprechen. Parallel verschlechterte sich Mundals Zustand weiter. Der Klinikarzt entschied sich dazu, ihn aus dem Krankenwagen zu holen und die Trage auf den Boden zu legen, um mehr Platz für die Behandlung zu haben, und begann mit Wiederbelebungsmaßnahmen. 

Doch der Grenzpolizist verwehrte dem palästinensischen Krankenwagen weiterhin die Durchfahrt. Sie müssten auf einen Transport mit israelischem Kennzeichen warten, hieß es. Unterdessen war Mundals Bruder Madhat aus Nablus herangeeilt und wartete in der Nähe des Checkpoints, wo er sah, wie Mundal in den zweiten Krankenwagen umgeladen wurde. Das Grenzpersonal ließ ihn jedoch nicht näher herankommen, um seinen Bruder zu sehen.

Die ganze Zeit über versuchte das Krankenpersonal, Mundal am Leben zu halten. Zwei Minuten nach Ankunft in dem Ost-Jerusalemer Krankenhaus wurde der Familienvater für tot erklärt. 

Nach den Regeln der Grenzpolizei darf kein Krankenwagen mit weiß-grünem (palästinensischem) Kennzeichen, dessen Fahrt nicht im Voraus koordiniert wurde, den Checkpoint passieren. Diese Regel gilt immer, und nichts ändert etwas daran – in diesem Fall also weder das Krankenpersonal oder der Bruder des Patienten, der die Beamten anflehte, das Fahrzeug durchzulassen, noch der Patient, bei dessen Anblick man dem Tod ins Gesicht schaute. Es dauerte 19 Minuten, bis der Krankenwagen mit gelbem Kennzeichen eintraf, um den Familienvater ins Krankenhaus zu überführen, wo er letztlich starb.

Mundal hinterlässt eine Familie ohne Vater. Sein Tod hätte bei rechtzeitiger medizinischer Versorgung womöglich verhindert werden können. Er ist kein Einzelschicksal, sondern steht stellvertretend für die alltägliche, institutionalisierte Form der Diskriminierung.

Ein Checkpoint zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen in Al-Khalil (Hebron) im Westjordanland. (öffnet Vergrößerung des Bildes)

Ein Checkpoint zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen in Al-Khalil (Hebron) im Westjordanland. Foto: Sherin Kulitz

Die systematische Einschränkung der Bewegungsfreiheit verschärfte sich ab 2002, als die Regierung unter Ariel Sharon beschloss, die sogenannte Grüne Linie – die 1949 definierte Waffenstillstandslinie, die das Westjordanland von Israel abgrenzt und Jerusalem in einen westlichen, jüdischen Teil und einen östlichen, arabischen Teil trennt – in eine Sperranlage zu verwandeln. Von der geplanten, 759 Kilometer langen und acht Meter hohen Sperranlage wurden bislang etwa 70 Prozent fertiggestellt.

Nur 15 Prozent der Sperranlage verlaufen tatsächlich entlang der «Grünen Linie». Die restlichen 85 Prozent schneiden tief ins Westjordanland hinein, teilen Dörfer, Felder und Verkehrswege. Sie trennen Landwirt*innen von ihren Feldern, Kinder von ihren Schulen und Familien von ihren Verwandten. Laut BTselem bestimmte vor allem die Lage der Siedlungen den Verlauf der Sperranlage – mit dem Ziel, diese in das israelische Staatsgebiet zu integrieren. Die Mauer zementiert die faktische Annexion und Ausdehnung. Im Jahr 2004 veröffentlichte der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Gutachten, das die Anlage als illegal einstufte. Dennoch wird der Bau bis heute fortgesetzt.

Annexion als Gegenwart

In den palästinensischen Gebieten wird deutlich, dass das Projekt der Landannexion nicht einer einzelnen Regierung oder einer spezifischen ideologischen Strömung in der israelischen Politik zuzuschreiben ist – es ist vielmehr das Resultat einer seit Jahrzehnten betriebenen Politik der Zerstörung, Vertreibung und Landnahme, die viele als «Kolonisierung» bezeichnen. 

Der Beschluss der israelischen Regierung vom 23. Juli 2025 zur vollständigen Annexion des besetzten Westjordanlandes belegt, dass es sich dabei keineswegs um eine Idee für die Zukunft handelt, sondern um ein Problem der Gegenwart. Er ist als eine offizielle Bekräftigung der messianischen Bestrebungen im Kontext der biblischen Vision «Eretz Israel» zu verstehen, eine seit dem Staatsgründungsprozess in den 1940er Jahren bestehende, expansionistische Variante des Zionismus. Diese Vision wird, je nach religiöser oder politischer Auslegung, unterschiedlich interpretiert. 

Im Gegensatz zu ultraorthodoxen Jüd*innen vertreten die Anhänger*innen der religiös-zionistischen Bewegung die Auffassung, dass die Besiedlung des Landes Israel (im biblischen Sinne) den Erlösungsprozess beschleunigen werde, der mit der Entstehung des jüdischen Königreichs verbunden sei. Die endgültige Erlösung setze allerdings Israels vollständigen militärischen Sieg und die Errichtung eines «Groß-Israels» voraus, das in seiner Gesamtheit ausschließlich jüdisch geprägt sein soll. Fast 60 Jahre nach dem Krieg von 1967 ist diese Vorstellung in der religiös-zionistischen Gemeinschaft, die die überwältigende Mehrheit der Siedlerbevölkerung stellt, vorherrschend geworden. Dieser Logik folgt auch der religiös-zionistische Finanzminister Smotrich, einer der treibenden Akteure hinter der Annexion des Westjordanlandes und dem Genozid in Gaza.

«Maximales Territorium, minimale [palästinensische] Bevölkerung» – so lautet das erklärte Ziel der Annexionspolitik Smotrichs, das er am 3. September 2025 auf einerPressekonferenz in Jerusalem verkündete. 82 Prozent des Westjordanlandes sollen nun formal annektiert werden. Gleichzeitig stieg die Zahl der durch Soldat*innen und Siedler*innen getöteten Palästinenser*innen im Westjordanland seit dem 7. Oktober 2023 laut dem UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten auf über 1.000 (Stand: 31. Juli 2025). 

Die Annexionspläne und zunehmenden Angriffe im Westjordanland geschehen allerdings nicht in einem Vakuum, sondern stehen in direktem Zusammenhang mit dem Massenmord, dem Aushungern, der Zerstörung und den Plänen zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens. 

86 Prozent der Enklave befinden sich nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten entweder in der von Israel militarisierten Zone oder unter Evakuierungsanordnungen. Über 90 Prozent der Wohnhäuser, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie jegliche Infrastruktur in Gaza sind zerstört. Zwischen der von UN-Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen deklarierten Hungersnot und der fortschreitenden Zerstörung des Lebensraums steigt die Zahl der Todesopfer. Bis Ende August wurden im Gazastreifen fast 65.000 Menschen von der israelischen Armee getötet; die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Und durch die neuerliche israelische Offensive in Gaza-Stadt werden die Opferzahlen weiter steigen.

 

 

 

 

 

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