03. Juni 2015   Aktuell

Eine Schicksalswahl

Quelle: jungewelt:  Beitrag von: Nick Brauns / 03.06.2015

Am kommenden Wochenende wird in der Türkei abgestimmt, an der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) könnten Erdogans Diktaturpläne scheitern

Am Sonntag sind rund 55 Millionen Wähler in der Türkei zur Stimmabgabe aufgerufen. Die meisten Beobachter sind sich einig, dass es sich dabei um die wichtigste Parlamentswahl in der Geschichte des Landes seit 1950 handelt.

Damals wurde die seit Republikgründung 1923 allein regierende kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) abgewählt. Insbesondere für die Verteidigung demokratischer Rechte und die Stellung der nichttürkisch-sunnitischen Bevölkerungsgruppen stellt die kommende Wahl eine Weichenstellung da.

So könnte der 7. Juni den Niedergang der seit zwölf Jahren allein regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) mit ihrer neoliberalen, reaktionär-religiösen und autoritären Agenda als hegemonialer Kraft des »grünen Kapitals« einleiten. Dass dabei ausgerechnet die als separatistisch und terroristisch verfemte kurdische Bewegung zur Retterin der Türkischen Republik werden könnte, erschient als Ironie der Geschichte.

Die etablierten Oppositionsparteien

Die lange dem nationalistischen Dogma von »einer Nation, einer Sprache und einer Fahne« verschworene CHP, die mit 23 Prozent derzeit die stärkste Oppositionsfraktion stellt, hat ihre Kandidatenliste unter ihrem Parteivorsitzenden Kemal Kiliçdaroglu für Angehörige ethnisch-religiöser Minderheiten geöffnet und eine sozialdemokratische Linie eingeschlagen.

In ihrem Wahlkampf stehen soziale Themen wie eine deutliche Anhebung des Mindestlohns, die Abschaffung der Steuern für Dieseltreibstoff für Bauern und die Einführung einer Familienversicherung im Vordergrund. Gefragt, wie dies zu finanzieren sei, verwies Kiliçdaroglu auf staatliche Milliardenzahlungen für die zwei Millionen infolge einer fehlgeleiteten Außenpolitik in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge. Sollte die CHP an die Regierung kommen, »wird sie unsere syrischen Brüder zurückschicken«, kündigte Kiliçdaroglu vor einer Versammlung von Unternehmern Ende April in Mersin an. »Wir werden ihnen sagen: ›Sorry, aber geht zurück in eure Heimat‹.«

Die bislang mit 13 Prozent der Stimmen im Parlament vertretene faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) – auch bekannt als die Grauen Wölfe – beschuldigt die AKP aufgrund der Gespräche von Regierungsvertretern mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan des Vaterlandsverrats. Sollte sie an die Regierung kommen, werde sie den Dialog unverzüglich beenden, mit dem Ziel, »nicht mit dem Terror zu verhandeln, sondern ihn zu bekämpfen«.

Neben chauvinistischer Rhetorik setzt die MHP auf ähnliche soziale Forderungen wie die CHP. Keine Chance, über die Zehnprozenthürde zu kommen, hat ein Wahlbündnis aus der ebenfalls zum Lager der Grauen Wölfe gehörenden, militant faschistischen Großen Einheitspartei (BBP) und der radikalislamischen Glückseligkeitspartei (Saadet). Doch könnte diese Allianz einige Prozentpunkte durch Stimmen unzufriedener bisheriger AKP-Wähler insbesondere aus dem Umfeld der lange mit der AKP verbündeten Fethullah-Gülen-Bewegung gewinnen, deren Mitglieder seit kurzem als »Staatsfeinde« verfolgten werden.

Das linke Bündnis HDP
Während die etablierten Oppositionsparteien CHP und MHP mit ihren eher farblosen Vorsitzenden im Wahlkampf vor allem ihre eigenen, sich überschneidenden Milieus ansprechen, wirbelt die erstmals zu einer Parlamentswahl antretende linke Demokratische Partei der Völker (HDP) die politische Szene der Türkei gründlich durcheinander.

Die Gründung dieser Dachorganisation aus der kurdischen Partei der Demokratischen Regionen (DBP) und linken Parteien wie der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), die im Wahlkampf auch von der Partei der Arbeit (EMEP) unterstützt wird, ging ursprünglich auf eine Initiative Abdullah Öcalans zurück.

Durch die Allianz mit sozialistischen und liberalen Kräften in der Westtürkei sollte die Isolation der kurdischen Bewegung durchbrochen und zugleich eine Perspektive für die schwache türkische Linke geschaffen werden. Mit dem Anspruch, allen unterdrückten Gruppen eine Stimme zu geben, umfasst die Kandidatenliste der HDP von religiösen Kurden wie AKP-Mitbegründer Dengir Mir Firat, über die Jesidin und frühere PDS-Europaabgeordnete Feleknas Uca, über sozialdemokratische Politiker wie den früheren Bürgermeister der Stadt Gaziantep, Celal Dogan, über Frauen-, Umwelt- und Homosexuellenaktivisten bis hin zu Kadern der weiterhin illegalen Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) ein breites Spektrum politischer Kräfte.

Im Wahlmanifest der HDP heißt es entsprechend: »Wir sind die Frauen, wir sind die Jugend, wir sind der Regenbogen, wir sind die Kinder, wir sind die Verteidiger der Demokratie, wir repräsentieren alle Identitäten, wir sind die Verteidiger einer freien Welt, wir sind die Beschützer der Natur, wir sind die Erbauer einer lebenssichernden Wirtschaft, wir sind Arbeiter, wir sind Werktätige, wir sind die Garanten sozialer Rechte.«

Die kurdische Frage soll durch »demokratische Autonomie« mit regionalen Selbstverwaltungsrechten gelöst und die Türkei zur »gemeinsamen Heimat« gemacht werden. Gefordert wird eine friedliche Außenpolitik, doch zur NATO-Mitgliedschaft der Türkei schweigt das Manifest. Zudem tritt die HDP für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ein – der Zusatz »im Rahmen unserer Prinzipien« kann dabei als Zugeständnis an sozialistische EU-Kritiker in den eigenen Reihen verstanden werden.

… wirkt bis in die AKP hinein
Weiterhin gilt in der Türkei die auf die Militärdiktatur – die Armee putschte am 12. September 1980 – zurückgehende Zehnprozenthürde bei Parlamentswahlen. Da kurdische Parteien im Landesschnitt bislang nur um die 6,5 Prozent erreichen konnten, traten diese in den letzten Legislaturperioden mit unabhängigen Direktkandidaten an.

Auf diese Weise gelang es 2011, 36 Abgeordnete einschließlich mehrerer türkischer Sozialisten aus den kurdischen Provinzen sowie türkischen Städten mit starkem kurdischen Bevölkerungsanteil wie Istanbul und Mersin in die Große Nationalversammlung zu entsenden, wo sie heute eine HDP-Fraktion bilden. Doch bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen August konnte der weit über die Anhängerschaft seiner Partei hinaus gefeierte Co Vorsitzende der HDP, der 42jährige kurdische Rechtsanwalt Selahattin Demirtas, fast zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Dadurch ermutigt, beschloss die HDP diesmal den riskanten Schritt, als Partei anzutreten.

Sie setzt dabei insbesondere auf enttäuschte bisherige kurdische AKP-Wähler als auch auf die traditionell links stehenden Aleviten, die bislang mangels Alternativen der CHP ihre Stimmen gaben. In geduldiger Überzeugungsarbeit gelang es, ganze kurdische Stammesverbände, die zuvor geschlossen die Regierungspartei unterstützt hatten, zur Stimmabgabe für die HDP zu bewegen. In Siirt traten Ende Mai 255 AKP-Mitglieder einschließlich mehrerer Stadträte geschlossen zu dieser Partei über.

Eine aufgrund der Einschätzungen von HDP-Wahlbeobachtern in den Auslandsvertretungen vorgenommene Zwischenauswertung ergab, dass die HDP bei der bereits seit 8. Mai laufenden Stimmabgabe in Deutschland mit rund 30 Prozent an zweiter Stelle hinter der AKP liegt.

Während die Kommunistische Partei (KP) eigene Kandidaten aufgestellt hat, empfiehlt die ÖDP eine Stimmabgabe zugunsten nicht näher bezeichneter »fortschrittlicher Kandidaten«.


Militärische Provokationen
Für die AKP ist die HDP der Hauptgegner im Wahlkampf. Gelingt es, diese unter der Zehnprozenthürde zu halten, dann würden nahezu alle rund 50 Mandate in den kurdischen Landesteilen an die Regierungspartei fallen. Selbst bei deutlichen Stimmverlusten hätte die AKP dann die nötige Mehrheit für die von Erdogan gewünschten Verfassungsänderungen zumindest per Referendum.

Hatte dieser bislang den Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zur Chefsache erklärt, so überraschte er Ende April auf Kundgebungen in den kurdischen Städten Batman und Diyarbakir im Südosten der Türkei mit der Feststellung, in der Türkei gäbe es gar keine kurdische Frage mehr.

Hinter dieser Kehrtwendung steht die Einsicht, dass der bisherige, durch keinerlei substantielle Zugeständnisse der Regierung unterfütterte Friedensprozess zwar die Autorität der PKK unter den Kurden gestärkt hat, doch gleichzeitig türkisch-nationalistische Kreise von der AKP abrücken ließ.

Weiterlesen in "jungewelt"

 

Suche

 
 
 

Rosa Luxemburg Stiftung

 

Besucherzähler

Heute13
Gestern9
Woche256
Monat269
Insgesamt95236
 

Anmeldung