Was ist Sozialismus
Quelle: Rede des Vizepräsidenten Alvaro García Linera, Bolivien
Gemeinschaftlicher Sozialismus des »Lebens in Würde«
Der Sozialismus ist keine neue Zivilisation, ist keine Wirtschaft oder eine neue Gesellschaft. Er ist das Schlachtfeld zwischen dem Neuen und dem Alten, zwischen dem herrschenden Kapitalismus und der aufständischen Gemeinschaftlichkeit. Das ist die alte, noch mehrheitliche kapitalistische Ökonomie, die schrittweise von der aufkommenden neuen gemeinschaftlichen Wirtschaft belagert wird. Das ist der Kampf zwischen dem alten Staat, der die Entscheidungen in der Bürokratie monopolisiert, und dem neuen Staat, der Entscheidungen in den Gemeinschaften, in den sozialen Bewegungen und in der Zivilgesellschaft immer mehr demokratisiert.
Sozialismus ist überbordende Demokratie, ist Sozialisierung der Entscheidungen in Händen der in sozialen Bewegungen selbstorganisierten Gesellschaft.
Sozialismus ist die Überwindung der versteinerten Demokratie, in der die Regierten lediglich die Regierenden wählen, aber nicht an den Entscheidungen über die öffentlichen Angelegenheiten beteiligt sind.
Sozialismus ist repräsentative Demokratie im Parlament plus gemeinschaftliche Demokratie in den ländlichen und städtischen Gemeinschaften plus direkte Demokratie auf der Straße und in den Fabriken. Alles zugleich und alles inmitten einer revolutionären Regierung, eines Staates der sozialen Bewegungen, der einfachen und bedürftigen Klassen.
Sozialismus besteht darin, dass die Demokratie in all ihren Formen alle alltäglichen Aktivitäten aller Einwohner eines Landes einbezieht und durchdringt, von der Kultur bis zur Politik, von der Wirtschaft bis zur Bildung.
Und natürlich ist Sozialismus der nationale und internationale Kampf um die Erweiterung des Gemeinbesitzes und der gemeinschaftlichen Handhabung dieser Gemeingüter wie Wasser, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Technik, Umwelt.
Im Sozialismus koexistieren viele Eigentumsformen und Formen zur Verwaltung des Reichtums: da gibt es das Privateigentum und das staatliche Eigentum; da gibt es das gemeinschaftliche Eigentum und das genossenschaftliche. Aber es gibt nur ein Eigentum und eine Verwaltungsform des Reichtums, die den Schlüssel für die Zukunft hat: das ist die gemeinschaftliche, die nur entsteht und sich ausweitet auf der Grundlage der freiwilligen Aktion der Werktätigen, des Vorbilds und der freiwilligen Erfahrung der Gesellschaft.
Gemeinschaftliches Eigentum und gemeinschaftliche Verwaltung können nicht vom Staat implantiert werden. Das Gemeinschaftliche ist die Antithese zu jeglichem Staat. Was ein revolutionärer, sozialistischer Staat machen kann, ist, dazu beizutragen, dass das Gemeinschaftliche, das aus eigener Aktion der Gesellschaft sprießt, sich ausweitet, stärker wird und die Hindernisse schneller überwinden kann. Aber die Vergemeinschaftlichung der Wirtschaft kann nur eine heldenhafte Schöpfung der Produzenten selbst sein, die erfolgreich beschließen, die Kontrolle ihrer Arbeit in fortschreitenden Schritten zu übernehmen.
Sozialismus ist also ein langer Übergangsprozess, in dem der revolutionäre Staat und die sozialen Bewegungen sich zusammentun, damit Tag für Tag neue Entscheidungen demokratisiert werden; damit Tag für Tag mehr wirtschaftliche Aktivitäten in die gemeinschaftliche Logik übergeführt werden statt in die Logik des Profits.
Und da wir diese Revolution von den Anden her, von Amazonien her, aus den Tälern heraus, aus den Tiefebenen und dem Chaco machen, alles Regionen, die geprägt sind von einer Geschichte alter lokaler gemeinschaftlicher Zivilisationen, so ist also unser Sozialismus wegen seiner Zukunft ein gemeinschaftlicher, er ist aber auch gemeinschaftlich aufgrund seiner Wurzeln, aufgrund seiner Vorfahren. Denn wir kommen aus der Gemeinschaftlichkeit unserer Vorfahren, der indigenen Völker, und weil das Gemeinschaftliche in den großen Errungenschaften der modernen Wissenschaft und der Ökonomie latent ist, wird die Zukunft notwendigerweise der Typ eines nationalen, dann kontinentalen und auf lange Sicht weltumfassenden gemeinschaftlichen Sozialismus sein. Aber zugleich verkörpert der Sozialismus für das neue Millennium, das sich aus den Wurzeln unserer Vorfahren nährt, die indigenen Kenntnisse und Praktiken des Dialogs und des Zusammenlebens mit der Mutter Erde.
Die Rettung des belebenden metabolischen Wechselspiels zwischen dem Menschen und der Natur, wie er von den ersten Nationen auf der Erde, den indigenen Völkern, praktiziert wurde, ist die Philosophie des »Lebens in Würde«. Und es ist klar, dass es nicht allein darum geht, die Zukunft ihre eigenen Wurzeln schlagen zu lassen; sondern es ist zudem die einzige reale Lösung für die Umweltkatastrophe, die das gesamte Leben auf unserem Planeten gefährdet.
Deshalb kann der Sozialismus des Neuen Millenniums nur ein demokratischer, ein gemeinschaftlicher und der des »Lebens in Würde« sein.