Den Nerv getroffen
Quelle: Frankfurter Rundschau, 12.06.2015
Mit ihrem Widerstand gegen die bisher praktizierte „Eurorettung“ trifft die griechische Regierung tatsächlich einen Nerv: Sie stellt die Politik des marktkonformen Syndikats infrage
Leitartikel von Stephan Hebel
Haben Sie gestern Radio gehört? Dann ist Ihnen vielleicht der Korrespondentenbericht aus Brüssel begegnet, in dem es hieß: Umstritten zwischen Griechenland und seinen Gläubigern seien unter anderem „Vereinfachungen“ bei der Mehrwertsteuer und die Forderung der Geldgeber nach einer „Rentenreform“.
Das war noch die mildere Färbung des vollkommen schiefen Bildes, das uns seit Monaten Tag für Tag um die Ohren gehauen wird. Was die EU, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds da verlangen, das sind vielleicht auch Vereinfachungen, vor allem aber Erhöhungen bei der Mehrwertsteuer. Und es sind nicht „Reformen“, sondern weitere Abstriche bei den längst massiv gekürzten Renten.
Das griechische Drama in Bildern
Armut und der Zusammenbruch der Sozialsysteme bestimmten die Stimmung in Griechenland 2014. Wie es für das Sorgenkind Europas weiterging, erzählen die folgenden Bilder.
Die Menschen demonstrieren gegen den europäischen Sparzwang und die Regierung im Frühjahr 2014.
Der griechische Premierminister Antonis Samaras (vorne) kann auch beim dritten Durchgang seinen Präsidentschaftskandidaten nicht durchsetzen. Jetzt heißt es Neuwahlen.
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Es wäre einiges geholfen, wenn die öffentliche Debatte den Sprachregelungen und Interessen der mit Athen streitenden „Institutionen“ nicht ganz so unkritisch folgte. Dann würde vielleicht auch klar, warum dieser Konflikt so nervtötend lange dauert, dass wohl jeder dem Stoßseufzer von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zustimmt: „Die Kuh muss vom Eis, aber sie rutscht immer wieder aus.“
Wer noch den Nerv hat zuzuhören, bekommt als deutscher Mediennutzer in etwa diesen Eindruck: Die Kuh, das sind die Griechen. Gefüttert mit „unserem“ Geld, sind störrisch aus der europäischen Herde ausgebrochen und in einer viel zu scharfen Linkskurve aufs Glatteis gestolpert, nur um zu verlangen, „wir“ sollten sie jetzt wieder retten, und zwar nach ihren eigenen Bedingungen. Das nervt natürlich gewaltig, und deshalb war es logisch, dass der nette Martin Schulz von der SPD, seines Zeichens Präsident des Europäischen Parlaments, erst vor ein paar Tagen wieder verlauten ließ, „die Griechen“ gingen ihm „gewaltig auf die Nerven“.
Weisungen aus dem neoliberalen Lehrbuch
Verschwiegen wird bei dieser Legende allerdings einiges. Zum Beispiel die Frage, wohin die Euroherde gerade marschierte, als die neue Athener Linksregierung beschloss, nicht mehr einfach mitzulaufen. Wer sich das fragt, kann eine ganz andere als die gängige Geschichte erzählen, die der Wahrheit wesentlich näher kommt:
Seit der Krise von 2008 folgt Euroland unter deutscher Hegemonie den Richtungsanweisungen aus dem neoliberalen Lehrbuch. Die Milliarden, die angeblich „den Griechen“ gegeben wurden, flossen überwiegend in die Stabilisierung des Bankensystems, man kann zugespitzt auch sagen: Sie gingen auf ein paar Umwegen an die Leute, die eigentlich wertlose Staatsanleihen besaßen, ob Griechen oder nicht.
Als Notmaßnahme mag das sogar unausweichlich gewesen sein, denn ein Zusammenbruch des bestehenden Finanzsystems hätte keineswegs nur die Reichen getroffen. Als nächster Schritt aber dachten Europas Vormächte keineswegs daran, das Eurosystem aus den Fängen der Finanzmärkte zu lösen und einen wirtschaftlich haltbaren Neuaufbau zu beginnen.
In Griechenland hätte das nicht nur bedeutet, eine funktionierende Steuerverwaltung aufzubauen und die notorische Verschonung der Reichsten zu beenden. Es hätte auch bedeutet, in einem Akt der Solidarität – und im eigenen Interesse auch Deutschlands! – ein Aufbauprogramm zu finanzieren, das dem Land auf die eigenen Füße geholfen hätte. Unter diesen Bedingungen, nur unter diesen, wäre sehr wohl auch zu diskutieren gewesen, was etwa an einem offenbar unüberschaubaren System der Frühverrentung zu ändern wäre.
Skandalöse Sparprogramme
Das Gegenteil dieser Alternative ist eingetreten: Durch sozial skandalöse und ökonomisch widersinnige Sparprogramme wurde Griechenlands Wirtschaft weiter in die Rezession getrieben. Als Gegenleistung für diese „Reformen“ gab es „Hilfen“, die den Staatsapparat irgendwie am Laufen hielten, ohne irgendetwas zu bewirken außer zunehmender Verarmung. Und die neoliberalen „Helfer“ verkündeten immer wieder, diese Schrumpfkur mache den griechischen Staat wieder fit – so oft die Zahlen auch das Gegenteil bewiesen.
Es ist dieses Modell, gegen das die griechische Linksregierung angetreten ist, und dafür war es höchste Zeit. Natürlich macht die Regierung Tsipras nicht alles richtig. Aber wenn deutsche Unionspolitiker fordern, Athen solle mal lieber die Reeder besteuern, dann ist das gleich doppelt zynisch: erstens im Angesicht der Steuerpolitik, die diese Politiker zu Hause vertreten; und zweitens angesichts der Tatsache, dass die Athener Vorgängerregierungen hier gar nichts taten, im Gegensatz zu Tsipras.
Bei allen Fehlern steht die Regierung der linken Syriza für ein Gegenmodell zur moralisch und ökonomisch verfehlten Politik des Heruntersparens. Das macht Syriza so gefährlich für die Gefolgsleute des Systems Merkel (leider einschließlich vieler Sozialdemokraten), weit über Griechenland hinaus.
Das ist es, was sie so nervt: Es trifft sie am Nerv. Gerade deshalb muss man hoffen, Tsipras möge dem marktkonformen Syndikat wenigstens so viel soziale Ausgewogenheit abhandeln, dass ihm zu Hause die Luft zum Weitermachen bleibt. Und Martin Schulz sollte sich um seine Nerven selber kümmern.