05. Februar 2018   Aktuell

Türkischer Politologe Cengiz Aktar: "Die Mehrheit verlangt nach dem Faschismus"

Der Standard.at: Interview Markus Bernath

Cengiz Aktar rechnet mit seinem Land ab:

Die Türkei sei unter Erdoğan zu einem faschistischen Regime geworden, das EU-Beitrittsprojekt ist tot STANDARD: Der türkische Präsident hat Deutschland als ein Nazi-Land und einen Zufluchtsort für Terroristen bezeichnet. Die Niederländer beschimpfte er als charakterlich verdorben. Braucht Europa Erdoğan noch?

Cengiz Aktar: Braucht Europa die Türkei, die von Erdoğan regiert wird? Die Antwort lautet Ja. Überall auf der Welt unterhalten Staaten auf die eine oder andere Weise Beziehungen zueinander, und sehr oft ist es die Geografie, die über diese Beziehungen entscheidet. Die Europäer, die Deutschen, die Griechen können die Türkei, die ein Nachbar ist, nicht ignorieren. Das ist Realpolitik. Aber das heißt nicht, dass die Europäer heute – anders als im Jahr 1999 beim EU-Gipfel in Helsinki – bereit wären, den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ins Auge zu fassen. Was Sie zitierten, diese Beleidigungen, diese Drohungen, diese Beschimpfungen der Europäer während der Kampagne für das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017, waren nur die Bekräftigung bereits schlecht gewordener Beziehungen zwischen der Türkei und den Europäern. All das jedoch war kein Zufall – das ist wichtig zu verstehen. Zu diesen Beschimpfungen der Europäer durch die Führung in der Türkei kam es nicht, nur um Applaus von den Nationalisten zu erhalten, von den Rechtsgerichteten, von radikalen Muslimen, den türkischen Wählern im Ausland. Das geht viel tiefer, als es scheint. Die Türkei ist dabei, sich zu "entwestlichen", vom Westen abzukehren.

STANDARD: Ein Traditionsbruch, politisch wie kulturell?

Aktar: Die Türkei hat sich Anfang des 19. Jahrhunderts dem Westen zugewandt, unter der Führung der Sultane Selim III. und Mahmud II. Das ist ein langer Prozess, zwei Jahrhunderte hindurch und gekrönt – wenn man das so sagen kann – von der Gründung der Republik im Jahr 1923. Die Türkei hat ihr Lager gewählt, das, was man nach 1945 die freie Welt nannte. Diese ganze Vergangenheit, dieses Erbe, dieses Geflecht von strategischen Beziehungen – all das wird im Moment neu beurteilt und korrigiert durch Erdoğans Regime.

STANDARD: Wie soll Europa also mit dem Nachbarn Türkei und mit Erdoğan umgehen, der sein Land vom Westen abkoppelt?

Aktar: Die Türkei hat das Recht, sich vom Westen oder von was auch immer abzuwenden, denn 50 Prozent, wenn nicht noch mehr, billigen diesen politischen Kurs. Damit muss man also leben. Wo der Schuh aber drückt, wo es für die Europäer – und für den Westen im Allgemeinen – unter strategischen Gesichtspunkten wichtig wird, das sind die Beziehungen dieser Türkei mit Russland und – möglicherweise – mit China. Im Westen verfolgt man mit Sorge, wie sich die Türkei von Europa desolidarisiert und sich mehr und mehr Russland annähert. Und Russland spielt diese Karte aus. Das Regime von Wladimir Putin nutzt und missbraucht die schlechten Beziehungen zwischen Europa und der Türkei. Das ist ein Problem, das man in den Griff zu bekommen hat. Und das ist der Blickwinkel, unter dem man jetzt Europas Verhältnis zur Türkei sehen muss.

 

STANDARD: Nun ist die Türkei aber immer noch ein Nato-Mitgliedsland und – offiziell zumindest – ein Beitrittskandidat zur EU. Das zieht der Annäherung an Russland doch Grenzen.

Aktar: Das große Problem für Europa ist, dass Erdoğans Türkei in keiner Weise mehr den demokratischen, liberalen Normen des Westens entspricht. Im Gegenteil: Erdoğans Türkei zeigt deutliche Zeichen eines faschistischen Staats, wie man ihn in den 1930er-Jahren in Deutschland, in Österreich, Ungarn, Rumänien, Griechenland, in Frankreich, in Italien gesehen hat.

STANDARD: Mit dem Begriff "Faschismus" ist man in der Türkei immer schnell bei der Hand. An was machen Sie das fest? An der Ablehnung des Pluralismus, der Erosion der Demokratie?

Aktar: Nein, das ist komplizierter. Es gibt genug Regime, denen die Demokratie nichts gilt, denen Menschenrechte gleichgültig sind, die Diktaturen sind, aber die deshalb nicht gleich auch als faschistisch einzuordnen sind. Die Türkei von heute jedoch ist ein faschistisches Land, denn ihre politische Linie hat einen Rückhalt im Volk. Und zwar von mehr als 50 Prozent. Deshalb kann man diese Türkei nur mit den Regimen der 30er-Jahre vergleichen. Ein Faschismus, der keine Unterstützung im Volk hat, ist kein Faschismus. Das kann dann ein totalitäres Regime sein, eine Diktatur, aber kein Faschismus. In der Türkei ist der Moment erst jetzt gekommen. Die Türkei lebt im Faschismus, und das ist gewollt. Um mit dem Psychoanalytiker und politischen Theoretiker Wilhelm Reich zu sprechen: Es gibt ein Verlangen nach dem Faschismus. In diesem Zustand lebt das Land jetzt. Die Mehrheit des türkischen Volkes verlangt nach dem Faschismus.

STANDARD: Was wären aber dann die Kennzeichen dieses türkischen Faschismus?

Aktar: Eine Männerwelt. Eine strukturelle Allergie gegen alles, was anders ist: Nichtmuslime, Nichtsunniten, Nichttürken, Kurden, Minderheiten im Allgemeinen, Homosexuelle. Eine antiwestliche Einstellung selbstverständlich. Ein unitäres, hyperzentralisiertes Machtsystem. Die Türkei war immer ein zentralisiertes Land, doch heute hat diese Zentralisierung einen noch nie erreichten Gipfel erreicht. Es gibt keine Kontrolle, kein Gegengewicht. Man kann nicht mehr von einer Gewaltenteilung sprechen: Die höchsten Ebenen der Judikative werden vom Präsidenten ernannt, die Legislative wird vom Präsidenten gestaltet, der Präsident ist gleichzeitig Chef seiner Partei, und alle Entscheidungen – die wichtigen wie die unwichtigen – werden von einer kleinen Gruppe um den Präsidenten getroffen. Und dieses System wird von mehr als 50 Prozent der Bevölkerung gutgeheißen.

STANDARD: Diese Türkei ist allerdings auch ein Beitrittskandidat zur EU.

Aktar: Nein, das ist vorbei. Obschon man festhalten sollte: Die österreichische Regierung, nicht allein ihr Außenminister Sebastian Kurz, sagt laut, was andere in Europa im Stillen denken. Die anderen Regierungen verstecken sich nur hinter den Österreichern. Auf absehbare Zukunft existiert die Beitrittsperspektive nicht mehr. Die Europäer werden ihre Beziehungen zur Türkei nun neu definieren, so glaube ich. Das wird wahrscheinlich ein aufwendiger gestaltetes Freihandelsabkommen sein. Es wird natürlich keine Zollunion mehr sein, denn die funktioniert ohne Perspektive eines EU-Beitritts nicht. Die EU-Kommission wird also beauftragt werden, ein Positionspapier zu schreiben, das wohl im Laufe des Jahres angenommen wird. In der Zwischenzeit spielen die Europäer aus strategischen Gründen – mit Blick auf die Nato – auf Zeit, bleiben vage, um die türkische Führung nicht zu sehr zu reizen. Wirtschaftliche Interessen stehen dabei auch auf dem Spiel – Deutschland, die Niederlande, Frankreich, Italien sind die größten Investoren in der Türkei.

STANDARD: Erdoğan hat nach seinem jüngsten Besuch in Brüssel erklärt, man habe sich darauf verständigt, innerhalb von zwölf Monaten einen Fahrplan für die Intensivierung des Beitrittsprozesses aufzustellen.

Aktar: Für so etwas braucht man zwei Seiten. Das sind Wunschvorstellungen der türkischen Seite. Sie hat keine Antwort darauf erhalten. Oder vielmehr: Die türkische Führung hat so sehr darauf gedrängt, dass die Europäer ein Treffen auf mittlerer Ebene zugestanden haben, eines der politischen Direktoren am 13. Juni, um über Gott weiß was zu reden – über das Leben, die Liebe, den Tod. Denn es gibt ja keine Agenda. In der türkischen Presse lesen Sie alles Mögliche dazu: eine Roadmap, Zugeständnisse der Europäer, der Türkei. Nein, die Phase, in der die Europäer die Idee eines EU-Beitritts der Türkei akzeptiert haben, ist vorbei. Man muss jetzt etwas Neues definieren.

STANDARD: Der türkische EU-Minister, Regierungsvertreter sagen weiterhin, das strategische Ziel bleibe der EU-Beitritt.

Aktar: Das sagt Marokko auch. Das bedeutet nichts.

STANDARD: Marokko ist kein Kandidat zum Beitritt, die Türkei schon.

Aktar: Ja, aber einen solchen Kandidaten hat man seit 1973 nicht mehr gesehen (1973 erweitert sich die damalige EWG zum ersten Mal. Großbritannien, Irland und Dänemark treten bei, Anm.). Jetzt läuft absolut nichts mehr. Die Europäische Union muss einen neuen klaren Vorschlag für das künftige Verhältnis zur Türkei machen. Diesen entscheidenden Punkt kann man nicht länger aufschieben. Alle Entscheidungsträger in Europa wissen doch, dass es faktisch keine Beitrittsverhandlungen mehr mit der Türkei gibt und dass die Türkei nicht länger die politischen – und übrigens auch nicht die wirtschaftlichen Kriterien von Kopenhagen – erfüllt. Man kann ja immer weniger von einer Marktwirtschaft in der Türkei sprechen. Es gibt keine Eigentumsgarantie mehr. Der Staat kann jederzeit das Eigentum jeder Gesellschaft aus x-beliebigen Gründen beschlagnahmen, wie man gesehen hat. Jeder weiß das. Man sollte aufhören, so zu tun, als ob die Türkei noch ein Kandidat für einen Beitritt zur EU wäre.

STANDARD: Man sagt nun häufig, Europa, der Westen müsse die anderen 50 Prozent der Türkei unterstützen. Auf welche Weise? Sollte die EU nicht endlich die Visafreiheit gewähren?

Aktar: Nein, die Aufhebung der Visapflicht für zehn Millionen türkische Passinhaber ist völlig indiskutabel. Und zwar aus innenpolitischen Gründen in Europa. Für alle Verfolgten in der Türkei wäre das ein Aufruf, das Land zu verlassen. Sie tun es ja ohnehin schon und beantragen Asyl in Europa wie nach dem Putsch von 1980. Dann gibt es das wirtschaftliche Problem: Die tatsächliche Arbeitslosenrate in der Türkei liegt um die 35 Prozent. Der Anteil der wirtschaftlich Aktiven ist ja sehr niedrig, es sind 50 Prozent. All diese Arbeitslosen würden also sofort nach Europa gehen. Eine schnelle Aufhebung der Visapflicht ist deshalb nicht seriös. Wie aber sollte man die Türkei unterstützen? Sicherlich nicht durch eine Politik der Beschwichtigung. So wie 1938 in München. Die Europäer werden mit einer Politik der Beschwichtigung keinen Erfolg haben mit dem faschistischen Regime Erdoğans oder mit dem Putins.

STANDARD: Sie kritisieren damit die Haltung der deutschen Kanzlerin gegenüber Erdoğan?

Aktar: Absolut. Sie träumt ja. Man kann nicht mit einem faschistischen Land diskutieren. Da muss man sich anderes ausdenken. Ein faschistisches Land spricht nicht dieselbe Sprache. Die anderen 50 Prozent in der Türkei zu unterstützen, die nicht mit diesem Kurs einverstanden sind, ist eine sehr schwierige Sache. Dafür braucht man viel Vorstellungskraft. Eine strukturelle Hilfe ohne Zustimmung der amtierenden Regierung ist kaum möglich. Zumindest was die Hochschullehrer in der Türkei anbelangt, die vor die Tür gesetzt wurden, einfach weil sie dem Regime gegenüber kritisch eingestellt sind, gibt es schon überall in Europa Aufnahmeprogramme, in Deutschland etwa die Philipp-Schwartz-Initiative für gefährdete Forscher. Ganz ähnlich wie zu Zeiten Kemal Atatürks, der in den 30er-Jahren die Oppositionellen aus Deutschland, Österreich und Ungarn aufgenommen hatte. Diese Programme könnte man ausweiten. Vielleicht zu einer "Universität des Exils".

Cengiz Aktar (61) ist ein ehemaliger UN-Beamter, Kolumnist und langjähriger Professor für Politikwissenschaften. Bis 2013 leitete er an der Istanbuler Bahçeşehir-Universität den von ihm gegründeten und mittlerweile geschlossenen Fachbereich für Europapolitik. Aktar war einer der Mitinitiatoren der Petition für eine Entschuldigung der Türkei am Massenmord an den Armeniern.

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