Israel spricht, Palästinenser dürfen schweigen: Wie die Tagesschau den Gaza-Krieg erzählt
Beitrag von "der Freitag", gefunden bei Attac
Was erfahren wir in der Tagesschau über den Krieg in Nahost? Wir haben am Beispiel der ARD einmal durchgezählt, wer zu Wort kommt – und in welcher Weise. Das Ergebnis ist verstörend
"Israel spricht, Palästinenser dürfen schweigen: Wie die Tagesschau den Gaza-Krieg erzählt"
Von Fabian Goldmann 05.05.25, 17)52
Zu einseitig, zu stereotyp, zu fehlerha!? Anderthalb Jahre dauert der Krieg in
Nahost nun schon an. Und fast ebenso lang wird Kritik an der deutschen Be-
richterstattung darüber laut. Schon im August 2024 zeigte eine repräsentative
Befragung: Jeder zweite Deutsche misstraut bei diesem Thema den deut-
schen Medien. Wir wollten wissen: zu Recht?
Um das tatsächlich herauszu"nden, haben wir uns das Aushängeschild des
deutschen Nachrichtenjournalismus genauer angeschaut: die Tagesschau
der ö#entlich-rechtlichen ARD. Wir wollten wissen: Wer kommt in Deutsch-
lands beliebtester Nachrichtensendung in Berichten über diesen Krieg zu Wort
– und wer weniger oder gar nicht? Welche Perspektiven erachtet die Redaktion
o#enbar für relevant, welche enthält sie ihrem Publikum vor? Und wie prägt
die Tagesschau damit unser Bild vom Krieg in Nahost? Als Zeitraum für die Un-
tersuchung wählten wir vom Tag des Hamas-Angri#s am 7. Oktober 2023 bis
zum 18. Januar 2025, dem vorläu"g letzten Tag des Krieges, bevor die mittler-
weile wieder gebrochene Wa#enruhe in Kra! trat.
>srael erklärt in der Tagesschau sich selbst
Man werde die „Feinde beseitigen und die Sicherheit wiederherstellen“, ver-
sprach Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Tagesschau vom 7.
Oktober 2023. Offizielle Vertreter und Vertreterinnen Israels sind die mit Ab-
stand häu"gsten und regelmäßigen Gäste in den 20 Uhr-Nachrichten der ARD.
In 312 Sendungen mit Bezug zum Krieg in Nahost brachten es Personen aus Is-
raels Politik und Militär auf insgesamt 136 Au!ritte. Israels Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu erhielt dabei mit 63 Statements besonders häu"g das
Wort.
Als einziger Kon%iktpartei gibt die Tagesschau Israel regelmäßig die Gelegen-
heit, die eigenen Kriegsziele zu erläutern, zu Anschuldigungen Stellung zu neh-
men oder ihre Deutung aktueller militärischer Aktionen und Vorkommnisse
zu präsentieren. Dabei scheint es unerheblich, von wem Anschuldigungen und
Aggressionen ausgehen. Egal ob aus Gaza Israel angegri#en wird oder Israel
Gaza angrei!, die Vereinten Nationen Israel kritisieren oder Israel die Verein-
ten Nationen, Iran Raketen auf Israel schießt oder vice versa – o! präsentiert
die Tagesschau dazu die Einschätzung eines israelischen Regierungspolitikers
oder Armeesprechers. Häu"g ist diese sogar die einzige gezeigte Deutung.Luxemburg
Offizielle palästinensische Stimmen zum Krieg sind in der Tagesschau dagegen
kaum zu hören. Das gilt für Repräsentanten aus dem Gazastreifen genauso wie
für jene aus dem Westjordanland, für Vertreter der Hamas ebenso wie für jene
von Fatah, der Autonomiebehörde, der PLO und aller anderen palästinensi-
schen Gruppierungen und Institutionen.
Den 136 Au!ritten israelischer Militärs und Politiker standen in 16 Monaten
Nahost-Berichterstattung der ARD-Hauptnachrichten gerade einmal vier Auf-
tritte palästinensischer Politiker gegenüber. Auf genauso viele Statements
brachte es Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu allein in den ersten
acht Tagen des Krieges. Palästinensische Repräsentanten und ihre Perspektive
auf die Geschehnisse bekamen in der Tagesschau damit ähnlich viel Raum wie
jene Luxemburgs (drei Au!ritte) und Spaniens (fünf Au!ritte) israelischer Militärs und Politiker vergin-
gen, bis das Tagesschau-Publikum am 3. Ja-
nuar 2024 mit Hamas-Chef Ismail Haniyya
erstmals einen palästinensischen Politiker
zu Gesicht bekam. Ein Vertreter der Fatah-
dominierten Regierung in Ramallah kommt
erstmals über acht Monate nach Kriegsbe-
ginn in der Tagesschau zu Wort: Am 11. Juni
2024 begrüßt der UN-Botscha!er Palästinas
Riyad Mansour eine Resolution des UN-Si-
cherheitsrates. Der vom Westen anerkannte
palästinensische Präsident Mahmoud Ab-
bas und sein Ministerpräsident Mohammad
Mustafa waren in der Tagesschau bisher
kein einziges Mal zu hören.
Ausgeglichener erscheint das Verhältnis bei
Menschen, die als Privatpersonen zu Wort
kommen. Hierbei handelt es sich vor allem
um Betro#ene des Krieges – aber auch De-
monstrantinnen, zufällig befragte Passanten haben wir dieser Kategorie eben-
so zugeordnet. Hier stehen 99 palästinensische Stimmen 89 israelischen
gegenüber.
Das klingt zunächst ausgeglichen. Berücksichtigt man aber, dass es für die Ta-
gesschau angesichts eines Vielfachen israelischer Angri#e und palästinensi-
scher Opfer wesentlich mehr nachrichtliche Anlässe gab, um palästinensische
Betro#ene zu Wort kommen zu lassen, erscheinen israelische Perspektiven
aber auch hier überrepräsentiert zu sein. So handelt es sich bei 53 der 89 israeli-
schen Stimmen allein schon um die Geiseln und Opfer des Angri#s vom 7. Ok-
tober sowie deren Angehörige und Unterstützerinnen.
Wer für den Gaza-Krieg „Experte“ sein darf
Dass Palästinenser für die Tagesschau-Redaktion o#enbar fast nur als individu- ell vom Krieg Betro#ene relevant sind, lässt sich auch anhand der dritten Kate-
gorie an O-Ton-Gebern zeigen. Hierunter haben wir Personen gefasst, die auf-
grund ihrer beru%ichen Beschä!igung mit dem Thema befragt werden, ohne
dabei eine politischen Institution zu vertreten.
Mit 17 Israelis und 15 Palästinensern scheint auch hier das Verhältnis zunächst
ausgeglichen. Große Unterschiede gibt es allerdings, wenn man sich ansieht,
welche israelischen und palästinensischen Fachleute genau ausgewählt wur-
den. Während auf israelischer Seite vor allem ehemalige Angehörige des Si-
cherheitsapparates sowie weitere „Sicherheits-“ und „Anti-Terror-Experten“ zu
Wort kommen (10 von 17), sind es auf palästinensischer Seite vor allem Ärzte,
Krankenhausdirektoren und Rettungskrä!e.
Palästinenser in der Rolle von Experten, die sich etwa als Völkerrechtlerinnen
oder Politikwissenscha!ler mit dem Thema beschä!igen, kamen in der Tages-
schau seit dem 7. Oktober 2023 nicht vor.
Auch Israels engste Verbündete erhielten viel Sendezeit. Politische und militä-
rische Vertreter und Vertreterinnen aus Deutschland waren 52-mal, jene aus
den USA 39-mal zu Gast. Ist in der Tagesschau eine politische Stimme aus
Deutschland zu hören, handelte es sich in den meisten Fällen um Außenminis-
terin Annalena Baerbock (Grüne). In 312 Sendungen mit Nahost-Bezug brachte
sie es auf 30 Au!ritte. Die häu"gsten US-amerikanischen Stimmen waren die
von US-Präsident Joe Biden (13 Au!ritte) und Außenminister Antony Blinken
(11 Au!ritte).
Mitglieder der Opposition oder Politiker, die der Nahostpolitik der Bundesre-
gierung kritisch gegenüberstehen, spielten in der Tagesschau so gut wie keine
Rolle. Die einzigen Ausnahmen waren zwei Einspieler aus Bundestagsdebatten,
in denen am 11. und 12. Oktober 2023 in der Tagesschau zwei Stimmen aus
CDU/CSU und je ein von Linke und AfD zu hören sind.
Die UN als Konfliktpartei – oder gar „Gegner Israels“?
Vertreter internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen (UN), der