Das andere Europa kann Wirklichkeit werden!
Victor Perli, niedersächsisches Mitglied im Bundesausschuss, war mit drei weiteren Mitgliedern der LINKEN auf eigene Initiative vor Ort und berichtet:
Am 25. Januar wurde in Griechenland ein neues Parlament gewählt. Wahlsieger wurde mit 36,34 Prozent die Linkspartei SYRIZA. Ihr Spitzenkandidt Alexis Tsipras, stellvertretender Vorsitzender der Europäischen Linkspartei, ist neuer Ministerpräsident Griechenlands.
Die Tage in Griechenland waren sehr eindrucksvoll. In negativer Hinsicht, was das Ausmaß der humanitären Krise angeht. Das kann so keine Statistik wiedergeben. In positiver Hinsicht, was sich an demokratischem Aufbruch, an Basisbewegungen, an Solidaritätsstrukturen von unten (z.B. Kooperativen, solidarische Kliniken, Essenszentren, Flüchtlingshilfe), an transformatorischen Ansätzen bei Produktion und Handel, an exzellenter Vorbereitung von SYRIZA und an Entschlossenheit zeigt, die herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse zu überwinden. Das alles lässt sich nicht in wenigen Worten beschreiben.
Die ersten Regierungsentscheidungen sprechen für sich: Bruch mit dem Diktat der Troika, Erhöhung des Mindestlohns von 400 auf 751 Euro, Stopp der Privatisierungen, Einbürgerung aller in Griechenland geborenen oder aufgewachsenen Migrant_innen, Wiedereinstellung der Entlassenen im öffentlichen Dienst (insbesondere Lehrkräfte), Entwaffnung der Polizei bei Demonstrationen, Abzug der ständigen Polizeipräsenz aus Multikultivierteln usw.*
Das wichtigste Signal des Aufbruchs von Griechenland ist, dass in Europa ein fortschrittlicher Bruch mit der herrschenden Politik möglich ist. Daran haben viele Menschen nicht mehr geglaubt, das ist eine riesige Chance.
Wir waren am Wahlwochenende – wovon wir vorher nichts wussten – die einzigen vier Mitglieder unserer Partei in Athen und mit unseren LINKE-Schildern die einzigen erkennbaren Menschen aus Deutschland. Wir sind als Unterstützer_innen von SYRIZA und als Gegner_innen unserer Regierung, die wesentliche Verantwortung für die Verarmungspolitik trägt, auf ein riesiges Echo gestoßen: von mehr als einem dutzend Fernsehsendern, Fotograf_innen, Journalist_innen und unglaublich vielen hocherfreuten Bürger_innen. Wir wurden gefühlt tausende Mal fotografiert und haben unzählige Interviews gegeben. Ich war beispielsweise im griechischen Fernsehen live auf Sendung. Am Montag waren wir mit unseren Schildern in allen großen Tageszeitungen Griechenlands auf einer der ersten vier Seiten abgebildet. „I see you everywhere“ simste uns ein Europaabgeordneter von SYRIZA.
Unsere Partei genießt in Griechenland als deutsche Austeritätsgegnerin höchste Anerkennung. Bundestagsreden von Gysi und Wagenknecht werden ins Griechische übersetzt. Mir ist noch nie soviel Hoffnung auf die Wirkungsmächtigkeit unserer Partei entgegengebracht worden wie in Athen, auch von Leuten aus Spanien, Italien, Portugal und Frankreich, die vor Ort mit großen Delegationen vertreten waren. Sie hoffen auf einen Kurswechsel in Deutschland.
Leider fehlen SYRIZA im Parlament zwei Sitze zur absoluten Mehrheit. Die Verfassung verpflichtet zur Regierungsbildung binnen drei Tagen. Die Koalition mit den Nationalkonservativen von ANEL („Unabhängige Griechen“) trübt die Freude über das Ergebnis natürlich. Niemand ist darüber erfreut, auch unsere griechischen Genoss_innen nicht. Sie sagen, dass es das „kleinste Übel“ sei, ein taktisches Bündnis „um kurzfristig die wichtigsten Ziele“ zu erreichen – das Ende der Austeritätspolitik, die Bekämpfung der sozialen Not, Neuverhandlungen mit den europäischen Partnern. Es habe keine inhaltlichen Zugeständnisse gegeben. ANEL hatte sich 2012 aus Protest gegen die Austeritätspolitik von den Konservativen um Ex-Ministerpräsident Samaras abgespalten und verfügt über kaum Parteistrukturen. Da sich die Kommunistische Partei KKE jeder Koalition verweigert, wären die einzigen Alternativen eine inhaltliche Verwässerung durch eine Koalition mit einer Pro-Austeritäts-/Pro-Memorandums-Partei oder Neuwahlen gewesen. Alle sind sich einig, dass sofortige Neuwahlen zu einem verheerenden Rechtsruck führen würden, weil die Linken unfähig waren eine Regierung zu bilden. Die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“, deren nahezu gesamte Führung wegen Geldwäsche, Mord und organisierter Kriminalität im Gefängnis sitzt, ist fast ohne Wahlkampf zur drittstärksten Partei im Parlament geworden.
Alexis Tsipras und SYRIZA haben drei Signale ausgesendet, dass sie sich des Risikos der Koalition bewusst sind: Erstens haben sie eine bekannte Menschenrechtsaktivistin aus der No-Border-Bewegung zur (Vize-)Ministerin für Migration ernannt, zweitens haben sie in der ersten Kabinettssitzung migrant_innenfreundliche Beschlüsse gefasst und drittens haben sie einzelne Personalvorschläge von ANEL als inakzeptabel zurückgewiesen. Es gibt erste Hinweise, dass Griechenlands EU-Kommissar, der für Migration, Inneres und Bürgerschaft zuständig ist, ausgetauscht werden soll, mit dem Ziel, mit der rigiden Flüchtlingspolitik der EU zu brechen.
Der bekannte deutsche Migrationsforscher und Flüchtlingsaktivist Bernd Kasparek, der zur Zeit in Athen ist, hält das Vorgehen von SYRIZA für glaubwürdig und formuliert in einem Aufsatz: „Es ist unnötig zu sagen und doch immer wert es zu wiederholen, wie die Bildung dieser neuen Regierung einen radikalen Bruch mit dem Neoliberalismus und der Austeritätspolitik in Europa repräsentiert. Es gibt keine Garantie, dass die neue Regierung erfolgreich sein wird. Aber ihre bloße Bildung hat bereits einen enormen politischen Raum eröffnet und die sozialen Bewegungen Europas und darüber hinaus sind aufgerufen, diesen historischen Moment an sich zu reißen, diese Räume zu besetzen und mit neuer Kraft wahre Alternativen zu der tristen – sozialen, ökonomischen und politischen – Lage, die noch immer in Europa vorherrschend ist, durchzusetzen.“
Die Hauptauseinandersetzung über ein Ende der Austeritätspolitik wird zunächst zwischen der griechischen und der deutschen Regierung ausgetragen. Das ist ein Grund, warum sich viele deutsche Medien jetzt auf Alexis Tsipras und SYRIZA einschießen. Aber die Kräfteverhältnisse verändern sich weiter. Im Herbst wird in Spanien gewählt und die neue linke Basisbewegung Podemos führt die Umfragen an. Unsere Aufgabe als Linke in Deutschland ist es, den Protest und die Alternativen zur europäischen Verarmungspolitik auch hierzulande sichtbar zu machen.
Das andere Europa kann Wirklichkeit werden!
Informationen zur aktuellen Situation finden Sie
- die Nachdenkseiten: “Der Showdown zwischen Griechenland und der Troika – Schäuble spielt alles oder nichts”
http://www.nachdenkseiten.de/?p=25100
- den Gastbeitrag unseres Europaabgeordneten Fabio de Masi im Tagesspiegel:
http://www.tagesspiegel.de/politik/gastbeitrag-griechenland-eine-unbequeme-wahrheit/11387976.html
- die öffentliche Newsseite:
https://www.facebook.com/griechenlandentscheidet/