Rutger Bregmann, Journalist und Historiker: Gerechte Besteuerung der Reichen und das Ende der Steuervermeidung
Kommentar Roswitha Engelke: Allein Menschenfreund zu sein reicht nicht, um unsere Gesellschaft in eine humanitäre Gemeinschaft umzustrukturieren.
Quelle: t:n digital pioneers
(Foto: Anna Fritsche)
10.07.2020, 08:27 Uhr
Rutger Bregman ist der Shootingstar unter den jungen europäischen Denkern. Er mischt sich immer wieder prominent in gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Debatten ein – und versteht es dabei, die Aufmerksamkeitsökonomie geschickt für sich zu nutzen.
So hat er 2019 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos für Aufsehen gesorgt, als er eine gerechtere Besteuerung für Reiche und ein Ende der Steuervermeidung forderte. Pure Philanthropie werde nicht reichen, um die Ungleichheit in der Welt zu bekämpfen. Ein Videoausschnitt aus der Rede erreichte im Netz mehrere Millionen Aufrufe.
Einige Wochen später war er dann zu Gast beim US-Sender Fox News, wo er mit dem Moderator Tucker Carlson aneinandergeriet. Der rechtskonservative Carlson wollte sich in der TV-Sendung mit Bregman als linkem Intellektuellen brüsten, um seinen Zuschauern zu zeigen, dass ihm das Wohl der Arbeiterklasse wichtig ist. Bregman spielte aber nicht so recht mit, nannte Carlson „einen Millionär, der von Milliardären finanziert wird“. Weil in der anschließende Auseinandersetzung Carlson die Fassung verlor und Bregman beschimpfte, schnitt der Sender das Interview raus. Bregman, der während des Interviews relativ ruhig geblieben war, veröffentlichte daraufhin einen Mitschnitt des Gesprächs auf Twitter.
Rutger Bregman weiß zu provozieren, ohne radikal zu wirken. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau spricht Bregman vom „Biest“ Kapitalismus, das es zu zähmen gilt. In seinem 2017 erschienen Buch „Utopie für Realisten“ setzt er sich fürs bedingungslose Grundeinkommen und die 15-Stunden-Woche ein. Es sind die Themen, die das global vernetzte Bildungsbürgertum leidenschaftlich diskutiert –, ohne sich allerdings die Hände zu schmutzig zu machen. Bregman setzt sich geschickt an die Spitze dieser Bewegung, weil er ziemlich genau versteht, wie sie tickt.
Der Niederländer hat Geschichte an der Universität Utrecht und der Universität von Kalifornien in Los Angeles studiert. Als Journalist schreibt er unter anderem für die holländische Nachrichten-Website De Correspondent, die als Crowdfunding-Projekt 2013 gestartet ist und vor allem auf Analysen und Hintergrundberichte setzt.
In seinem neuesten Buch „Im Grunde gut“ kritisiert Bregman das vorherrschende Bild des Menschen als egozentrischem Wesen. Die Geschichte zeige vielmehr, dass die menschliche Zivilisation zutiefst von zunehmender Freundlichkeit und Zusammenarbeit geprägt ist. Eine radikale Idee, wie er sagt. Vor allem auch eine, die in diesen Zeiten enorme Aufmerksamkeit erzeugt.
Kurz bevor die Welt Mitte März das öffentliche Leben herunterfährt, ist Rutger Bregman zu Gast in Hannover und liest aus seinem neuen Buch. Am Nachmittag vor der Lesung empfängt er in einer Hotellobby im Stadtzentrum zum Interview. Bregman ist gut gelaunt. Er trinkt einen Tee, spricht mit Begeisterung über seine Ideen. Draußen regnet es, Passanten fliehen in die Läden. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, den Sars-CoV-2 auslöst.
t3n: Herr Bregman, Sie vertreten in Ihrem neuen Buch die These, dass der Mensch im Grunde gut ist. Denken Sie das auch, wenn Sie morgens die Zeitung lesen?
Rutger Bregman: Nachrichten drehen sich ja meistens um Ausnahmen. Es geht in der Regel um Dinge, die falsch laufen: Korruption, Krisen, Terrorismus und Gewalt. Wenn Sie also viel davon konsumieren, erhalten Sie automatisch einen komplett verkehrten Blick auf die Welt. Und Sie werden eine ziemlich pessimistische und zynische Sicht der menschlichen Natur im Allgemeinen haben. Psychologen nennen es das „Mean-World-Syndrom“. Ich meine damit nicht den gesamten Journalismus, sondern die Medien, die in erster Linie über sensationelle, beiläufige, negative Dinge berichten. Sie sind wahrscheinlich eine der schlimmsten Informationsquellen, die es gibt.
t3n: Das klingt fast so, als ob uns Nachrichten irrtümlicherweise glauben lassen, dass Menschen von Natur aus schlecht sind. Ist also alles nur ein psychologischer Trugschluss, oder steckt mehr dahinter?
Lassen Sie mich kurz ausholen. Es gibt die Idee, die seit 2000 Jahren tief in der westlichen Kultur verankert ist, dass die Zivilisation nur eine dünne Schicht ist, und dass, sobald etwas Schlimmes passiert wie eine Naturkatastrophe oder ein Krieg, die Bestie in jedem von uns herauskommt. Die Menschen sind nach dieser Vorstellung tief im Inneren grundlegend egoistisch und müssen daher kontrolliert und in Schach gehalten werden. Wir haben unsere ganze Gesellschaft um diese Idee herum aufgebaut – unsere Demokratien, unsere Organisationen, den Arbeitsplatz, die Schulen. Es ist fast schon eine revolutionäre Aussage, wenn man das Gegenteil behauptet.
t3n: Was wäre denn das Gegenteil?
Die Menschen sind keine Engel. Aber sie sind im Grunde gut und sie neigen zutiefst zu Freundlichkeit und Zusammenarbeit. Wir machen zwar alle möglichen schlimmen Sachen, sind manchmal aggressiv oder eifersüchtig. Und wir können ziemlich fies sein. Wir stehen aber auf zwei Beinen: ein soziales und ein egoistisches. Die Frage ist, welches von beiden wir trainieren. Oder anders gesagt: Abhängig davon, mit welcher Erwartungshaltung wir anderen Menschen begegnen, beeinflussen wir auch ihr Verhalten.
t3n: Das müssen Sie erklären!
Die Theorie über die menschliche Natur kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Dies ist der berühmte „Pygmalion-Effekt“, der bereits in den 1960er-Jahren von Robert Rosenthal, einem bedeutenden amerikanischen Psychologen, entdeckt wurde. Es ist eine sehr einfache Erkenntnis mit wichtigen Auswirkungen. Wenn Sie zum Beispiel in der Arbeitswelt davon ausgehen, dass Ihre Mitarbeiter kreativ und klug sind und hart arbeiten wollen, dann werden Sie sie auch entsprechend behandeln und genau diese Fähigkeiten in den Mitarbeitern wecken.
t3n: Schauen wir auf ein aktuelles Beispiel: Was lehrt uns die Coronakrise über die menschliche Natur? Zeugen nicht Hamsterkäufe und der Diebstahl von Desinfektionsmitteln von Egoismus?