Grundrechte: Ohne Versammlungsfreiheit gibt es keine demokratische Willensbildung
Beitrag Roswitha Engelke
Grundrechtereport 2021, Seite 155, ff.
Protest in Zeiten von Corona von Vivian Kube und Pauline Weller
Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit stellte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1985 in seiner Brokdorf-Entscheidung klar.
Das Recht, sich frei zu versammeln und aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess teilzunehmen, zähle zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens (vergl. BVerfG 69, 315). In der Versammlungsfreiheit manifestiert sich unsere Grundentscheidung für einen demokratischen Staat.
Diese Leitlinien gelten bis heute:
Beschränkungen von Versammlungen unter freien Himmel unterliegen strengen Grenzen.
Beschränkungen zum Schutz der individuellen Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitssystems, also der Verfassungsgüter leben und körperliche Unversehrtheit, können nur verfassungsmäßig sein, soweit sie auf einem Gesetz beruhen und verhältnismäßig sind.
Ein Versammlungsverbot darf nur das letzte Mittel sein, wenn alle möglichen Medifikationen der Demonstration zum Schut der Gesundheit wie ein Ortswechsel oder das Tragen von Mund-Nasen-Schutz nicht genügen.
In den ersten Wochen der Ausgangsbeschränkungen missachteten die Behörden und Gerichte vielerorts diese fundamentale Bedeutung der Versammlungsfreiheit und entschieden sich pauschal für Verbote - ohne Prüfung der konkreten Umstände. Erst nach zahlreichen friedlichen Protesten, bei denen die geltenden Schutzvorkehrungen kreativ und wirkungsvoll umgesetzt wurden, nach zahlreichen Klagen von GrundrechtsträgerInnen und zwei Eilentscheidungen des BVerfG wogen die Behörden und Gerichte wieder differenzierter zugunsten der Versammlungsfreiheit ab.
Verbote und Zurückhaltung der Gerichte
Die Ausgangsbeschränkungen, die im März 2020 aufgrund des Infektionsschutzgesetzes erlassen wurden, enthielten entweder (faktische) Totalverbote für Versammlungen, da außerhäusliche Zusammenkünfte sehr beschränkt waren, oder erlaubten Versammlungen nur nach ausdrücklicher Erlaubnis der Versammlungs- und Gesundheitsbehörde. Damit kehrten diese Regeleungen das verfassungsrechtlich geltene Verhältnis von Regel und Ausnahme um: Zwar ist eine Versammlung auch sonst anzumelden, eine Erlaubnis muss aber laut Artikel 8 GG gerade nicht eingeholt werden.
Dazu kamen eine restriktive Praxis der Behörden und auffällige Zurückhaltung der Gerichte bei der Überprüfung der Exekutiventscheidungen. Im Ergebnis waren im Frühjahr 2020 die Anforderungen an Versammlungen oft strenger als die Anforderungen, die am Alltagsgeschehen gestellt wurden.
Es wurden Versammlungen verboten, bei denen nur Schuhe stellvertretend für die Demonstrierenden aufgestellt werden sollten ("Wir hinterlassen Spuren - #LeaveNoOneBehind", 5.4.2020), die nur zwei Teilnehmende vorsahen (Verwaltungsgericht (VG) Neustadt an der Weinstraße, Beschluss vom 2.4.2020, AZ 4 L.333/20.NW) oder bei denen Mundschutz getragen und Abstand eingehalten werdenn sollte (VG Dresden, Beschluss vom 30.3.2020, Az. 6 L 212/20).Verfassungswidrige Argumente und fehlende Einzelfallabwägung
Verfassungswidrige Argumente und fehlende Einzelfallabwägung
Die Argumente, die zur Rechtfertigung dieser Beschänkungen angeführt wurden, missachten vielfach die rundsätze der Versammlungsfreiheit. Ein Argument lautetete, Demonstrationen brächten stets eine erhöhte Infektionsgefahr mit sich, da generell mit Menschenansammlungen zu rehnen sei. Dieses Argument verkennt u. a. die Schutzpflicht des Staates, die sich aus Artikel 8 GG ergibt (vergl. Brokdorf-Beschluss, Rn 94).
Behörden sind demnach zur Kooperation mit der Versammlungsleitung angehalten, um durch abgestimmte Schutzonzepte einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Eine bloße Überprüfung der Vorschläge der Versammlungsleitung reicht nicht aus. Die Verantwortung für die Einhaltung der Schutzmaßnahmen kann nicht vollständig auf die Versammlungsleitung abgewälzt werden. Hierfür íst auch die Polizei zuständig.
Teils versuchten Verwaltungsgerichte, die Verbote dadurc zu rechtfertigen, dass eine Versammlung unter Schutzvorkehrungen ohnehin an Außenwirkung einbüße. Dieses Argument ist nicht mit dem Selbstbestimmungrecht der Protestierenden aus Artikel 8 GG vereinbar, wonach diese selbst über Ort, zeit, Inhalt und Art der Veranstaltung entscheiden dürfen. Weder Gerichte noch Behörden haben die Wirkkraft von Demonstrationen zu bewerten.
Ein drittes Argument lautetete, die Beschränkungen seinen gerechtfertigt, da sie ledigleich temporat seinen. Bei vielen dringenden Anliegen, wie den medizinischen Notsänden in den Camps an den europäischen Außengrenzen, kpmmmt es aber gerade auf den Zeitpunkt des Protestes an. Daher liegt ein zu rechtfertigender Eingriff in das Selbstbestimmungrecht der Protestierenden vor.
Schwer wog vor allem, dass die staatlichen Entscheidungen, anstatt im Einzelfall genau zu prüfen, wie der Gesundheitsschutz unter Auflagen gewährleistet werden kann, oft pauschal zu einem Verbot von Versammlungen führten. (...)