17. Januar 2023   Aktuell

Spaniens Verfassungsgericht, eine Gefahr für die Demokratie und den Rechtsstaat in Spanien

Prof. Dr. Axel Schönberger

Deutschland

16. Jan. 2023 —

Der ehemalige spanische Verfassungsrichter Prof. Dr. Joaquín Urías, Professor für spanisches Verfassungsrecht, hat am 15. Januar 2023 unter dem Titel «Hay que meterle fuego al Tribunal Constitucional (o no)» einen brisanten Artikel auf publico.es veröffentlicht, der die desolate Lage des spanischen Rechtssystems anschaulich verdeutlicht und Zustände beschreibt, die in Deutschland noch immer nicht in der breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Nachstehend werden die wichtigsten Passagen in deutscher Übersetzung wiedergeben.


«Die progressive Mehrheit hat die Kontrolle über das Verfassungsgericht zurückgewonnen. Die Regierung und die Medien, die sie unterstützen, jubeln wie Kinder mit neuen Schuhen. Die Rechten hingegen, die es bis vor wenigen Tagen kontrollierten, haben eine Kampagne gestartet, um unser höchstes Verfassungsorgan zu diskreditieren und zu delegitimieren, weil ihnen ein Spielzeug weggenommen wurde.

Beide Seiten sind unverantwortlich. Sie sind sich dessen nicht bewußt, aber indem sie ihre eigenen Interessen über die des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger stellen, setzen sie das gesamte demokratische System aufs Spiel. So sehr, daß man sich fragt, ob es nicht besser wäre, das Verfassungsgericht einfach abzuschaffen. Nicht, weil es politisiert ist, was nichts Schlechtes ist, sondern weil es möglicherweise keinen anderen Zweck mehr erfüllt, als ein System zu legitimieren, das immer unfreier ist. ist. Die Zukunft des Landes hängt zu einem großen Teil von den Richtern ab, die jetzt die Mehrheit haben, und von ihrer persönlichen Verantwortung. Und man kann bezweifeln, daß sie dieser Aufgabe gerecht werden können.

Die politische Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts ist durchaus vernünftig. Ein Gremium, das konstituierende Entscheidungen treffen muss, braucht eine direkte Legitimation.  [...]

Aber es gibt auch die berechtigte Erwartung, daß die Richterinnen und Richter über diese ideologischen Orientierungen hinaus unabhängig handeln, die Verfassung ehrlich anwenden und von niemandem Befehle annehmen.

Das Problem in Spanien ist also nicht die politische Wahl, sondern die Tatsache, daß die großen politischen Parteien immer mehr ihnen nahestehende Personen mit begrenzter juristischer und intellektueller Befähigung zu Richtern wählen, deren Gegenwart und Zukunft von ihrer Fähigkeit abhängt, die Gunst dieser Parteien zu erhalten. Sie agieren nicht als freie Richter, sondern als Spielfiguren, die den Befehlen der einen oder anderen Partei unterworfen sind, die nicht zögert, ihre Unterstützung auch für die kleinsten ihrer taktischen Interessen zu verlangen. Ein solches Gericht ist nicht nur irrelevant, wie einer der besten Juristen Spaniens kürzlich warnte, sondern wird zu einer Gefahr für die Demokratie, weil es Ungerechtigkeit und Unterdrückung formal legitimiert. Ein Gericht mit Vasallenrichtern, wie wir es seit zwei Jahrzehnten haben, ist die größte denkbare Gefahr für unser demokratisches System. Als Beispiel zwei wichtige Punkte: der Schaden, den das Verfassungsgericht dem territorialen System zufügt, und die Aushöhlung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger.

 

Spaniens großes verfassungsrechtliches Versagen war zweifellos die territoriale Gliederung des Staates. Die Verfassung von 1978 war nicht in der Lage, die so genannte ‘regionale Frage’ zu befrieden. Der Verfassungstext sieht ein praktisch föderales System vor, in dem die Gebiete mit dem stärksten Identitätsgefühl ein hohes Maß an Selbstverwaltung genießen können. Die Menschen, die im Baskenland, in Katalonien, Galicien, Andalusien, dem Land València oder auf den Kanarischen Inseln leben, hätten die Möglichkeit haben sollen, täglich über ihre Zukunft zu entscheiden, ihre eigenen Regeln aufzustellen und ihre eigene Politik umzusetzen, ohne sich täglich den Entscheidungen aus Madrid unterwerfen zu müssen.

Wenn dies nicht geschehen ist, so ist das Verfassungsgericht daran schuld. Angesichts der verfassungsrechtlichen Unklarheiten beschneidet diese ausgesprochen zentralistische Einrichtung seit Jahrzehnten die politischen und regulatorischen Befugnisse der autonomen Gemeinschaften so weit wie möglich. Dieses ständige Bestreben, Spanien in einen zentralistischen Staat zu verwandeln, hat nicht aufgehört, egal ob es von progressiven oder konservativen Mehrheiten kontrolliert wird.

In diesem Punkt hat die große Mehrheit der Verfassungsrichter schamlos die geistige Unzulänglichkeit eines abgestandenen und überholten spanischen Nationalismus übernommen, der unfähig ist, etwas zu akzeptieren, was in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Deutschland, um nur zwei Beispiele zu nennen, unbestritten ist: Ein Land kann stark und geeint sein, obwohl die verschiedenen Gebiete, aus denen es besteht, ihre eigenen Rechtsregeln haben, die den Bedürfnissen und Idealen ihrer Bevölkerung entsprechen. Solidarität zwischen den Gebieten, Steuergerechtigkeit oder der Respekt vor territorialen Identitäten vereinen mehr, wenn es um  ein gemeinsames Projekt geht, als Vereinheitlichung und Zwang aus dem Zentrum.

in Verfassungsgericht mit niederen Schachfiguren, die den Interessen der Partei, die sie befördert hat, unterworfen sind, anstatt mit unabhängigen und intellektuell soliden Richtern, wird auch weiterhin ein zentralistisches Gericht sein, selbst wenn es den Befehlen der Regierung statt denen der Opposition unterstellt wird.

Wenn es darüber hinaus etwas gibt, das den Niedergang des Verfassungsgerichts in den letzten zwei Jahrzehnten kennzeichnet, dann ist es sein Eifer, die Macht und seine Privilegien über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu stellen. Beamte, die nur darauf aus sind, den Mächten, die sie ernannt haben, zu gefallen und sie bei Laune zu halten, können kaum ihre eigentliche Aufgabe erfüllen, die darin besteht, eben diesen Mächten Schranken zu setzen.

Das Wesen der Demokratie sind die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die sie frei und gleichberechtigt machen, indem sie ihnen erlauben, von der Rolle der Untertanen in die der Souveräne zu wechseln. Gegenüber der Willkür der öffentlichen Macht haben die Bürgerinnen und Bürger einen geschützten Raum der Freiheit. In einer Demokratie haben die Menschen das Recht, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie die Machthaber stört. Und sie haben das Recht, die Straßen zu besetzen und öffentlich zu zeigen, daß sie jedes Thema ablehnen, egal wie schlecht es für die amtierende Regierung sein mag. Und wenn sie eine Rechtswidrigkeit begehen, haben sie das Recht, erst nach einem Prozeß mit allen notwendigen Verfahrensgarantien verurteilt zu werden, auch wenn mächtige Leute sie bestrafen wollen. Rechte bedeuten, daß Einwandererkinder zur Schule gehen können, egal was die Behörden darüber denken. All diese Dinge und noch viel mehr hängen letztendlich vom Verfassungsgericht ab.

Wenn wir anstelle von Richtern und Staatsanwälten Handlanger der einen oder anderen politischen Partei haben, wird es passieren, wie in Spanien, daß sie in all diesen Fällen zugunsten der Machthaber entscheiden und ungestraft die Qualität unserer Demokratie verschlechtern, um die Herren ihres Schicksals nicht zu verärgern.

Die großen politischen Parteien und die meisten Medien stellen die Erneuerung des Verfassungsgerichts als einen Kampf zwischen der Rechten und der Linken dar, um die Richtung seiner Entscheidungen zu kontrollieren. Der rechte Flügel ist wütend, daß der linke Flügel, der jetzt jubelt, die Kontrolle übernommen hat. Das ist eine inakzeptable Aussicht.

Wenn das politische Gerangel der letzten Monate nur dazu dient, den Herrn zu wechseln, dem die Richterinnen und Richter als Vasallen dienen, die sich mehr um ihre persönlichen Interessen kümmern als um die Zukunft des Landes, dann ist das der Todesstoß für unsere Demokratie.

Wir brauchen ein unabhängiges Verfassungsgericht. Die verbeamteten Richter können progressiv oder konservativ sein. Es ist gut zu wissen, wo jeder von ihnen steht, und es ist vernünftig, daß die Tendenzen, die sich bei den Wahlen als mehrheitsfähig erwiesen haben, überwiegen, denn so können wir die Sensibilität lenken, mit der sie an die Auslegung der Verfassung herangehen. Aber wenn sie nicht unabhängig sind, wenn sie es nie wagen werden, der Partei und der Regierung, die sie ins Amt gebracht haben, die Stirn zu bieten, ist es gleich, wie sie denken: Wir sind genauso verloren. Wenn sie weiterhin als Sprachrohr ihres Herrn agieren wollen, ist es das Beste, das Verfassungsgericht abzuschaffen. Hoffen wir, daß das nicht erforderlich sein wird!»

Wieso erhebt sich in der Europäischen Union keine vernehmbare Kritik an den unhaltbaren Zuständen in Spanien, an den vielfachen Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem katalanischen Volk, den ‘Juden Spaniens’? Wieso koalieren im Europäischen Parlament demokratische Parteien anderer Länder mit ultrarechten National-Españolisten, die gegen das zwingende Recht der beiden großen Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen agieren? Wieso wird die spanische Regierung auf europäischer Ebene nicht in die Schranken gewiesen?

Das katalanische Volk, seine politischen Führer und führende Persönlichkeiten der katalanischen Zivilgesellschaft sind in Spanien einer in Europa beispiellosen Repression ausgesetzt. Die katalanische Nation wird im spanischen Mehrvölkerstaat als Minderheit unterdrückt. Das katalanische Parlament wurde im Oktober 2017 unter Bruch organischen Rechts der spanischen Verfassung aufgelöst, die Parlamentspräsidentin inhaftiert. Die demokratisch gewählte katalanische Regierung wurde rechtswidrig für abgesetzt erklärt. Wer in aller Welt wird der Europäischen Union glauben, daß ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten ernst gemeint sei, wenn sie weiterhin schweigt und wegsieht?

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