12. Oktober 2017   Aktuell

Jawohl, das ist verboten!

Quelle: Neues Deutschland

Verweigerung des rechtlichen Gehörs

65 Jahre Grundgesetz - eine persönliche Erfahrung mit dem Rechtsstaat. Von Werner Micke

 

Im Frühjahr 1964 fuhr ich, damals Redakteur der »Berliner Zeitung«, mit dem Vorsitzenden des Komitees für Touristik und Wandern der DDR, Gerhard Mendl, nach Bonn. Wir waren Mitglieder des Festkomitees für das Deutschlandtreffen der Jugend, das zu Pfingsten in Berlin stattfinden sollte. Anlass der Reise war der öffentlich gemachte Vorschlag des Westberliner Bürgermeisters Pfarrer Heinrich Albertz, 100 000 Jugendliche aus dem deutschen Westen sollten die Einladung aus der DDR annehmen. Erich Mende, Vizekanzler, Minister für gesamtdeutsche Fragen und noch FDP-Vorsitzender, hatte sogar die Zahl 120 000 genannt und junge Mitglieder seiner Partei zur Reise nach Berlin ermuntert. Die Einladung junger Leute aus dem Westen, um die nach dem Mauerbau fast völlig eingefrorenen Beziehungen zwischen beiden Staaten aufzulockern, war ein unerwartetes Angebot aus der DDR. Unerwartet war dann aber auch, dass trotz der positiven Reaktion aus Bonn junge Leute, die westdeutsche Jugendverbände einladen wollten, in Helmstedt gleich hinter der deutsch-deutschen Grenze von Polizisten aus den Zügen geholt und kurzerhand ins Gefängnis gesteckt wurden.

 

 

Nun sollten wir, Gerhard und ich, in Bonn Details der Anreise, Teilnahme, Unterbringung und Verpflegung der angekündigten jungen Leute aus dem Westen besprechen. Da mit Komplikationen auch für uns gerechnet werden musste, beriet uns vor der Abreise Professor Friedrich Karl Kaul bezüglich denkbarer Versuche, uns ein Bein zu stellen. Er war wegen seines Auftretens in einigen spektakulären Prozessen in der Bundesrepublik gegen Nazi-Kriegsverbrecher und einer regelmäßigen Serie im Fernsehen ein weithin bekannter Jurist. Nach Passieren der Grenze wurden wir zwar von der Polizei mehrere Stunden festgehalten, ausgefragt und einer Leibesvisitation unterzogen, aber nicht verhaftet. So erschienen wir also, offenbar etwas überraschend, in der Bundeshauptstadt. Dem Bundesjugendring, Dachverband der Jugendorganisationen, berichteten wir, dass die Polizei in Helmstedt den Brief mit der Einladung zum Deutschlandtreffen beschlagnahmt hatte. Ein Versuch, uns bei Vizekanzler Mende telefonisch anzumelden, schlug fehl; die Leitung brach plötzlich zusammen. Kurz danach stoppten Polizisten unser Auto und brachten uns ins Polizeipräsidium. Dort nannte uns Hauptkommissar Kleinmottenburg von der Politischen Polizei den Grund für das scheinbare Versagen des Telefons: »Ich empfehle Ihnen, mit niemandem über das Deutschlandtreffen zu sprechen.« Auf die Frage, ob es denn verboten sei, mit verantwortlichen Politikern zu reden, antwortete Kleinmottenburg: »Jawohl, das ist verboten!« Für den Fall weiteren Aufenthalts in Bonn drohte er uns eine gewaltsame Abschiebung an.

 

Auf der Rückreise nach Berlin forderten wir im niedersächsischen Justizministerium in Hannover die Freilassung der Verhafteten. Ministerialrat Dr. Lühr behauptete, sie hätten die Tätigkeit der in der BRD verbotenen FDJ fortgesetzt. Junge Menschen aus der Bundesrepublik sollten in Berlin ideologisch beeinflusst werden. Das sei nach Paragraf 92 Strafgesetzbuch strafbar. Wir fragten deshalb: »Also haben sich Albertz und Mende im Sinne dieses Paragrafen auch schuldig gemacht, als sie die westdeutsche Jugend aufriefen, in die Hauptstadt der DDR zu fahren?« Dr. Lühr meinte, das sei etwas ganz anderes. Wie jemand, der zu einem Jugendtreffen einladen will, zuvor aber verhaftet wird, die Tätigkeit der verbotenen FDJ fortsetzt, konnte er nicht erklären. Auch nicht, wie damit Verfassungsgrundsätze untergraben würden.

 

 

Ein paar Tage später fuhren wir erneut in den Westen - um die Verhafteten zu besuchen: Eingesperrte, die bis zu ihrer Verhaftung lediglich ein paar Meter in der Bundesrepublik mit dem Zug gefahren waren. Statt - um das Dilemma aufzulösen - sie einfach freizulassen und sich für den Irrtum zu entschuldigen, teilte uns die Staatsanwaltschaft mit, wir seien nun ebenfalls verhaftet. Zum Beauftragten Kauls, dem Hannoveraner Rechtsanwalt Karl-Heinz Nölke, der unsere Verteidigung vorbereitete, war inzwischen das Anwaltsbüro von Gustav Heinemann getreten. Proteste gegen unsere Verhaftung mehrten sich - in beiden deutschen Staaten und in anderen Ländern. In die Protestfront reihte sich sogar die CDU/CSU-Jugendorganisation Junge Union ein. Eines Tages besuchte uns im Gefängnis der Vizepräsident des Weltbunds der Demokratischen Jugend (WBDJ) Mustafa Achmed el Sheik. Der Braunschweiger Justiz wurde die angefasste glühende Kohle zu heiß. Offenbar wollte - und sollte - sie uns nun so schnell wie möglich loswerden. Aber bei dem schlimmen Delikt, dessen wir beschuldigt waren, erforderte das eine komplette Kehrtwendung.

 

Überstürzt wurde im Landgericht Braunschweig ein Prozess für den 13. Mai 1964 angesetzt - zu dem einzigen Zweck, ihn sofort zu beenden. Wir waren des Versuchs angeklagt, den Bestand der Bundesrepublik zu beeinträchtigen und die in § 88 StGB bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben oder solche Bestrebungen zu fördern. Staatsanwalt Retemeyer musste dem Gericht nun, damit es das Verfahren wegen Geringfügigkeit einstelle, das Gegenteil erklären. Er sagte uns am Schluss sogar, was er an diesem Tag empfand: »Jetzt sind Sie frei, und ich bin der Angeklagte.« Der Prozess ging damit zu Ende, dass wir zwar aus der Haft entlassen, aber nicht freigesprochen wurden. Und obendrein verweigerte uns der angebliche Rechtsstaat, was er allen Angeklagten, selbst Mördern, zugesteht: ein letztes Wort und damit das im Grundgesetz verbriefte rechtliche Gehör (Artikel 103). Allerdings erreichte Heinemanns Sozius Dr. Diether Posser (von 1980 bis 1988 Stellvertreter des NRW-Minister­präsidenten Johannes Rau) mit seinem Engagement im Prozess sein erklärtes Ziel: Wir blieben die letzten, die einzig aus dem Grund, DDR-Bürger zu sein, in der Bundesrepublik eingesperrt wurden.

 

Der Braunschweiger Prozess vor 50 Jahren widerlegt die Legende, die Führung der BRD habe sich stets für die Einheit der Deutschen eingesetzt, während die der DDR sich immer dagegen gestemmt habe.

 

Unser Autor war später stellvertretender ND-Chefredakteur für Außenpolitik.

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