Gastronomie präsentiert die Lockdown-Rechnung
Kommentar: Diejenigen, die sich am Virus gesundgestoßen und Milliarden verdient haben, sollten auch die Rechnung begleichen, alles andere wäre unanständig.
Zeit.online; Gastronomie im Lockdown: Die Lockdown-Rechnung bitte
19. Januar 2022, 16:46 UhrEditiert am 22. Januar 2022, 20:06 UhrDIE ZEIT Nr. 4/2022, 20. Januar 2022 74 Kommentare
Können Gastronomen von ihrer Versicherung verlangen, dass sie ihnen einen Teil der während des Lockdowns entstandenen Schäden ersetzt? Über diese Frage verhandelt am Mittwoch der kommenden Woche der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe.
Geklagt hatte ein Gastwirt aus Schleswig-Holstein, der zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 sein Restaurant schließen musste. So erging es Zehntausenden im ganzen Land, die vom staatlich angeordneten Lockdown betroffen waren. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts machte das deutsche Gastgewerbe im April 2020 gut 68 Prozent weniger Umsatz als ein Jahr zuvor.
Der norddeutsche Gastronom beruft sich nun auf seine Betriebsschließungsversicherung und verlangt, dass ihm der Versicherer – wie es vertraglich vereinbart worden war – für 30 Tage die entgangenen Einnahmen ersetzt. Die Höhe der Verluste ist nicht bekannt, der Versicherer weigert sich jedoch, zu zahlen. Unter anderem argumentiert er, das Coronavirus gehöre nicht zu den versicherten Krankheitserregern.
Die Frage, wer die Schäden der Pandemie bezahlt, ist damit an der Spitze der Justiz angekommen. Der Fall ist nicht nur für Gastronomen und Hotelbetreiber relevant, sondern auch für Lebensmittelhersteller und Kliniken. Überall, wo gekocht wird, können Betriebsschließungsversicherungen das finanzielle Risiko abfedern, falls das Gesundheitsamt eine Küche dichtmacht. Bislang war das allenfalls im Zusammenhang mit Salmonellenerkrankungen und ähnlichen Infektionen relevant. Nun kommt dieser speziellen Versicherung eine ungeahnte Bedeutung zu.
Schon mitten im ersten Lockdown sah der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband die Versicherer in der Pflicht. "Es geht um die Existenz Tausender Betriebe. Aber es geht auch um das Vertrauen in die Versicherungswirtschaft", sagte die Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges damals. Die Versicherer zeigten sich jedoch weitgehend unnachgiebig. Viele boten lediglich einen Vergleich an, der als "Bayerische Lösung" bekannt wurde. Die bayerische Landesregierung schlug vor, dass Versicherer ihren Kunden für einen Zeitraum von maximal 30 Tagen bis zu 15 Prozent des Ertragsausfalls auf freiwilliger Basis erstatten. Der restliche Schaden sollte dagegen durch staatliche Leistungen wie Kurzarbeitergeld oder Soforthilfen von Bund und Ländern ausgeglichen werden. Vielen Wirten genügte das jedoch nicht, und sie reichten Klagen gegen ihre Versicherer ein.
"Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien haben die meisten deutschen Gerichte bislang zugunsten der Versicherer entschieden, darunter fast ausnahmslos alle Oberlandesgerichte", sagt Vincent Schreier, Versicherungsrechtler an der Freien Universität Berlin. Bis zum August 2021 wurden 231 Urteile veröffentlicht, die zugunsten der Assekuranzen ergingen – aber nur 34 zugunsten der Gastronomen. Schreier weist darauf hin, dass die Versicherungsbedingungen vieler Anbieter zwar tatsächlich eine Liste von Krankheitserregern enthalten, in denen das Coronavirus nicht aufgeführt ist. Allerdings nähmen die Bedingungen oft auch ausdrücklich Bezug auf Regelungen im Infektionsschutzgesetz. Dieses sei sehr flexibel und wurde vom Gesetzgeber während der Pandemie mehrfach geändert. Offen ist zudem, ob eine Betriebsschließungsversicherung überhaupt im Fall eines generellen Lockdowns gilt oder nur in Einzelfällen wirkt.
Anders als bei den Großverfahren um den Dieselskandal wird das BGH-Urteil nicht automatisch für eine Vielzahl von Klägerinnen und Kläger rechtlich bindend sein. "Zu beachten ist in jedem Fall, dass sich die Entscheidung des BGH nur auf die im konkreten Fall vereinbarten Versicherungsbedingungen beziehen wird. Man wird der Entscheidung daher keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen zum Versicherungsschutz entnehmen können, sondern immer im Einzelfall prüfen müssen, was in den jeweiligen Verträgen vereinbart worden ist", sagt der Versicherungsrechtler Schreier. Da die umstrittenen Klauseln der Versicherer jedoch typisch sind für viele andere vor der Pandemie abgeschlossene Verträge, blickt die Gaststätten- und Hotelbranche gespannt auf den Ausgang des Prozesses.
Die bisherige Rechtsprechung wird unter Juristinnen und Juristen jedenfalls kontrovers diskutiert. Viele seien der Auffassung, dass Versicherungsnehmern die Deckungslücken ihrer Policen nicht hinreichend transparent vor Augen geführt werden, sagt Schreier. "Vor diesem Hintergrund würde ich keine Wette darauf abschließen, wie sich der BGH hierzu positionieren wird."
Sollten die Karlsruher Richter zu dem Ergebnis gelangen, dass die Versicherungsbedingungen in dem Einzelfall des norddeutschen Gastronomen grundsätzlich auch Folgen des Lockdowns aufgrund des Coronavirus abdecken, ist jedenfalls davon auszugehen, dass es nicht bei der einen Entscheidung bleiben wird. In diesem Fall ergeben sich nämlich viele weitere Fragen rund um die große Abschlussrechnung der Pandemieschäden in Deutschland. Unter anderem zu jenen Ausfällen, die Gastronomen im zweiten Lockdown ein knappes Jahr später entstanden sind. Fragt sich, ob auch diese möglicherweise versichert waren.
1111MicrosoftInternetExplorer402DocumentNotSpecified7.8 磅Normal0