Soziales
Deutschland, ein sozialer Staat?
Interview mit Jürgen Borchert (Sozialrichter im Ruhestand) in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung
"Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs. Er ist an Intransparenz nicht zu überbieten", beginnt Borchert. Beispiel Hartz IV: Das Gesetz wurde innerhalb von zehn Jahren mehr als 70 mal verändert hat. Davon einige Male tiefgreifend. Das schaffe kein Vertrauen - es führe dazu, dass die Bürger kein Rechtsbewusstsein mehr entwickelten", so der ehemalige Sozialrichter.
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Stelle keine Fragen an den Staat
Weil Timo H. auf einem öffentlichen Portal Fragen zu einer mysteriösen Hartz IV Maßnahme stellte, verschickte das Jobcenter eine Sanktionsandrohung. Sollen so kritische Fragen verhindert werden?
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Zeitverträge als Dauerzustand
In vielen Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit werden Arbeitnehmerrechte der Mitarbeiter systematisch missachtet. Diesen Vorwurf erhebt die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.
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HARTZ IV Sanktionsandrohungen gegen minderjährige Schüler
Und wenn du denkst, dümmer geht es nicht …
Dann kommt das Jobcenter OSL und verlangt, unter Androhung von Sanktionen, von schulpflichtigen Kindern Bewerbungen auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, im Umkreis von 50 km um den elterlichen Wohnsitz. Und weil Kinder oftmals noch unkritischer als deren Eltern sind, wird die Verpflichtung des Kindes auch gleich mal in einer Eingliederungsvereinbarung fixiert.
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Die Erreichbarkeit nach Feierabend oder wenn der Chef nicht loslassen kann
Arbeit ist das halbe Leben, heißt es, doch diese Hälfte wird immer größer und immer anstrengender. Stress, Hetze, Überstunden, Termin- und Leistungsdruck sind heute üblich.
Immer häufiger führt das Arbeitsleben zu Depression und Frühverrentung. Höchste Zeit also für ein Anti-Stress-Gesetz. Arbeitsministerin Andrea Nahles allerdings will lieber nichts überstürzen.
CDU-Vize Michael Fuchs findet das gar eine „dekadente“ Idee. Fuchs ist gegen ein Gesetz, das den Feierabend der Arbeitnehmer vor dem Zugriff ihres Chefs schützt.
„Solch realitätsferne Ideen können sich nur dekadente Gesellschaften leisten", sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion. Das Wörterbuch der deutschen Sprache definiert Dekadenz als „kulturellen Verfall, der sich in einer übertriebenen Verfeinerung des Geistes und der Sinne äußert“. Sind die deutschen Beschäftigten alle zu Weicheiern geworden?
Wie sieht das Leben im „dekadenten“ Deutschland heute aus? Die Fakten sind mal wieder eindeutig. Zum einen wird die Arbeit immer produktiver. Pro Arbeitsstunde wird heute in der Industrie doppelt so viel produziert wir noch 1991. Man könnte also Arbeitszeit mit vollem Lohnausgleich reduzieren und gleichzeitig die Arbeit entspannter gestalten.
Aber so ist es nicht. Denn nicht die Produktivität zählt für die Unternehmen, sondern die Rentabilität. Profit geht vor Lebensglück. Und das macht das Arbeitsleben immer härter. Immer mehr Jobs sind unsicher und zeitlich befristet, was die Angst vor Job-Verlust schürt. Immer weniger Menschen sind durch Tarifverträge geschützt, sondern ihren Arbeitgebern ausgeliefert. Schichtdienst, Nacht- und Wochenend-Arbeit nehmen zu, mehr als jeder vierte Deutsche arbeitet laut Eurostat regelmäßig am Abend. Die Angst vor Hartz IV tut ihr Übriges, um die Menschen gefügig zu machen.
Nach einer Umfrage der Ersatzkrankenkassen muss jeder fünfte Arbeitnehmer auch nach Feierabend dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz klagt die Hälfte der Deutschen über wachsenden Stress im Job. Jeder zweite Befragte leidet unter ständigem Termin- und Leistungsdruck. Jeder Vierte verzichtet auf eine Pause.
Den Turbo-Kapitalismus halten viele nicht lange aus: Burn-out, Depressionen, psychische Probleme sind die Folgen, die auch wirtschaftlich verheerend sind. Mehr als 60 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage gingen 2012 auf das Konto „Psychische und Verhaltensstörungen“. Unaufhaltsam wächst der Anteil jener, die wegen psychischer oder Verhaltensstörungen vorzeitig in Rente gehen müssen. Seit 1993 ist er bei den Männern von 12 auf 36 Prozent gestiegen und bei den Frauen von 20 auf 49 Prozent.
Die LINKE hat die Bundesregierung in einer kleinen Anfrage nach den Gründen für die zunehmende psychische Belastung gefragt.
Von Rendite und Profit und Deregulierung des Arbeitsmarkts ist in der Antwort keine Rede.
Als Ursachen sieht die Bundesregierung dagegen die „Kommunikationstechnik“, „Informationsflut“, die „Beschleunigung von Fertigungsprozessen“, „Globalisierung“, „Strukturwandel, „Flexibilisierung“ und „Subjektivierung“ – also anonyme „Kräfte“ und Tendenzen, die keine Profiteure und keine Urheber mehr kennen.
Arbeitsministerin Nahles kündigt nun vollmundig eine Anti-Stress-Verordnung an. Sie lässt jetzt prüfen, ob und wie es möglich sei, «Belastungsschwellen» festzulegen. Erste Ergebnisse werden für 2015 erwartet; konkrete Schritte werden also noch auf sich warten lassen.
Die LINKE sagt dagegen: Genug geprüft! Die Faktenlage spricht eine eindeutige Sprache. Wir unterstützen die Forderung der Gewerkschaften nach einer Anti-Stress-Verordnung. Beispiele, wie diese rechtlich sicher umgesetzt werden kann, gibt es in unseren Nachbarländern zur Genüge.
Die Arbeitszeit muss nach den Bedürfnissen der Beschäftigten ausgerichtet werden. Abend-, Wochenend- und Schichtarbeit darf es nur geben, wenn es unvermeidlich ist. Im Betriebsverfassungsgesetz sind erzwingbare Rechte einzuführen, durch die die Belegschaften bei der Gestaltung von Arbeitsaufgaben, Arbeitsorganisation und Arbeitsumfeld mitbestimmen können. Der Betriebsrat muss in vielen Fällen ein Veto-Recht haben.