Soziales

30. Dezember 2015   Themen - Soziales

Was brachten die Steuersenkungen für die Reichen unserer Gesellschaft:Rendite größer als Wirtschaftswachstum!

Eine Zurückverteilung ist erforderlich

Geschrieben in: Gesellschaft, Ökonomie

Die Ausarbeitungen von Thomas Piketty in seinem Buch “Das Kapital im 21. Jahrhundert”  zeigen, dass die Kapitaleinkommen seit dem 19. Jahrhundert überwiegend höher sind als das Wirtschaftswachstum, dass die Vermögenskonzentration zugenommen hat und die Schere zwischen arm und reich immer grösser geworden ist. Allein die Entwicklung in den letzten fünfzehn Jahren in Deutschland zeigt, dass höhere Kapitaleinkommen im Vergleich zum Wirtschaftswachstum eine schwerwiegende ökonomische und soziale Schieflage hervorgebracht haben:

  • Die realen Arbeitseinkommen sind zwischen den Jahren 2000 und 2012 um knapp 2 Prozent gesunken. Dagegen stiegen die Vermögenseinkommen in dieser Zeit real um mehr als 40 Prozent! Die Schere zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen ist deutlich auseinander gedriftet.
  • Die volkswirtschaftliche Lohnquote ist deutlich gesunken: Betrug sie im Jahre 2000 noch knapp 72%, so fiel sie mit einigen Schwankungen auf knapp 68% im Jahre 2014.

Die Befürworter der neoklassischen Angebotspolitik argumentieren mit den positiven Beschäftigungswirkungen einer solchen Umverteilung von unten nach oben. Bei genauerer Betrachtung wird aber deutlich, dass zwar die Beschäftigtenanzahl gestiegen ist, jedoch das Arbeitsvolumen kaum. In den letzten Jahren stiegen vor allem Teilzeit- und Mini-Jobs an. Mit der Schaffung von immer mehr prekären Beschäftigungsverhältnissen wurde ein Niedriglohnsektor mit ungeahnten Ausmaßen geschaffen. Inzwischen arbeiten 25% der Beschäftigten im Niedriglohnbereich. Damit ist Deutschland „Spitzenreiter“ in Europa. Die Bilanz der letzten 15 Jahre: Beschäftigung (Arbeitsvolumen) und Löhne stagnieren, die Lohnquote ist deutlich gesunken, während die Kapitaleinkommen drastisch gestiegen sind. Der Wohlstand ist nur in der Gesamtbetrachtung der Volkswirtschaft gestiegen, aber Wohlstand für alle hat es nicht gegeben, im Gegenteil: Die Armut ist gestiegen. So veröffentlicht die EU-Kommission in ihrem „Länderbericht Deutschland 2015“, dass der armutsgefährdete Anteil der deutschen Bevölkerung kontinuierlich von 15,2% im Jahre 2008 auf 16,1% in 2013 gestiegen ist.

Vermögen stark angestiegen und konzentriert
Die Deutsche Bundesbank teilte im Juli mit, dass „im ersten Quartal 2015 …das Geldvermögen der privaten Haushalte gegenüber dem Vorquartal außergewöhnlich kräftig um knapp 140 Milliarden Euro oder 2,8% zugenommen [hat] und …damit auf 5.212 Milliarden Euro gestiegen [ist]“. Dieses Geldvermögen umfasst im Wesentlichen Bargeld, Wertpapiere und Bankeinlagen. Nimmt man das gesamte Vermögen einschließlich Immobilien, hat das private Vermögen in Deutschland einen Umfang von annähernd 10.000 Milliarden Euro erreicht. Der öffentliche Schuldenberg mit ca. 2.200 Milliarden Euro sieht neben dem riesigen Vermögensberg eher wie ein Hügel aus. Dieses gewaltige private Vermögen ist äußerst ungleich verteilt und stark konzentriert: Die reichsten 10% der Bevölkerung besitzen zwei Drittel (66,6%), allein das reichste 1 % der Bevölkerung besitzt über ein Drittel (35,8%) dieses Vermögens.
Dieser private Reichtumsberg ist u.a. durch massive Steuersenkungen für Unternehmen und reiche Bürger*innen seit dem Jahre 2000 angewachsen, gemäß der Devise „mehr Gewinn schafft mehr Investitionen, die zu höherer Beschäftigung führen“. Aber die Investitionen sind nicht gestiegen, sondern rückläufig (die Investitionsquote betrug im Jahre 2000 noch 20 % des BIP gegenüber nur noch 17 % in 2012), weil die begrenzte Nachfrage aufgrund der gesunkenen Lohnquote den Unternehmen keine weiteren nennenswerten Gewinnsteigerungen versprachen. Gestiegen sind dagegen Finanzspekulationsgeschäfte, mit denen nicht nur reiche Bürger*innen, sondern auch Unternehmen und Konzerne hohe Gewinne machten. Die massiv steigenden, immer wieder renditesuchenden Kapitaleinkommen wurden immer stärker in die Finanzmärkte statt in die Realwirtschaft gepumpt. Das weltweite Finanzvermögen ist bis zur Finanzmarktkrise im Jahre 2008 seit 1980 um das Zwanzigfache gestiegen, während das Weltsozialprodukt in dieser Zeit lediglich um das Sechsfache angestiegen ist. Diese Abkopplung des Finanzvermögens von der Realwirtschaft ist eine der wesentlichen Ursachen für den Crash an den Finanzmärkten 2007/2008, der massive Bankenrettungen durch Staaten auslöste, deren Verschuldung daraufhin explodierte und die Realwirtschaft zum Teil vorübergehend (Deutschland 2009) und teils noch anhaltend (z.B. Spanien, Italien, Griechenland) zum Einbruch brachte.

Die massiven Steuersenkungen haben somit nicht nur nicht zu mehr Investitionen und mehr Beschäftigung geführt. Im Gegenteil: sie wirkten sich nachteilig auf die Ökonomie aus, weil sie den fatalen Prozess der Loslösung der Finanzvermögen von der Realwirtschaft beschleunigten. Verschärfend kommt hinzu, dass sie dem Staat allein in Deutschland Einnahmeverluste von ca. 50 Mrd. Euro pro Jahr bescheren – Geld, das für viele dringend notwendige öffentliche Investitionen fehlt. Seit dem Jahre 2000 sind durch die verschiedenen Steuersenkungen der Bundesregierungen inzwischen mehr als 750 Milliarden Euro verloren gegangen. Und so hat denn auch die OECD ermittelt, dass die vermögensbezogenen Steuern in Deutschland nur 0,8% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, während sie im Durchschnitt der G-7-Industrieländer 2,9% betragen. Deutschland ist ein Niedrigsteuerland für Reiche.

Die Bilanz der neoliberalen Wirtschaftspolitik der letzten 15 bis 30 Jahre ist klar negativ und damit gescheitert: Während sie einerseits zu einem gewaltigen Crash an den Finanzmärkten geführt und um den Preis einer explodierenden Staatsverschuldung nicht nur die privaten Vermögen gerettet, sondern weiter gesteigert hat, mussten andererseits insbesondere die Arbeitnehmer*innen, Rentner*innen und Erwerbslosen „den Gürtel enger schnallen“, weil die Lohnquote gesunken ist, der Niedriglohnbereich drastisch ausgedehnt wurde, reale Einkommensverluste zu verzeichnen sind und die Massenarbeitslosigkeit bei weitem nicht abgebaut wurde. (In diesem Zusammenhang steht in der europaweiten Betrachtung das Scheitern der neoliberalen Austeritätspolitik, die die durch die Bankenrettungskosten verursachten Staatsschuldenprobleme einiger Länder nicht gelöst, sondern –insbesondere in Griechenland- massiv verschärft haben).
Mit dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik gerät der Mittelstand zunehmend unter Druck. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren bestimmt häufig den Alltag. Die Schere zwischen arm und reich wird immer grösser. In den Unternehmen herrscht die kapitalmarktgetriebene Devise der Profitmaximierung. Und die funktioniert über den Druck auf Lohn- und Sozialstandards sowie immer höhere Leistungsanforderungen. Dabei ist die Politik gleich geschaltet: Mit der Schuldenbremse wird Druck gemacht, die Ausgaben „im Griff zu halten“ bzw. zu senken. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik wird mit dem Kampfbegriff der „Wettbewerbsfähigkeit“ geführt. Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und Wettbewerbsfähigkeit der Staaten sollen sichergestellt werden. In der Regel geht das über Ausgabenkürzungen, fälschlich als „Sparen“ bezeichnet. Diese neoliberale Definition von Wettbewerbsfähigkeit ist jedoch fatal, weil sie immer auf die Senkung von Löhnen und Sozialstandards zielt, die eine Spirale nach unten auslöst, bei der breite Bevölkerungsschichten die Verlierer sind. Wettbewerbsfähigkeit im positiven Sinne, über Innovation und Qualität, die von einem aktiven, investierenden Staat zum Wohle aller entfaltet wird, passt nicht in das marktgläubige Konzept der Angebotspolitiker. Nach mehr als 30 jähriger neoliberaler Wirtschaftspolitik mit ihrer gescheiterten Bilanz für die Bevölkerung wird es höchste Zeit, diese zu ändern.

Eine alternative Wirtschaftspolitik ist dringend notwendig, weil die neoliberale Politik die gesamtwirtschaftliche Entwicklung immer wieder –massiv- gefährdet. So belegen bereits Studien des IWF, der OECD und der Hans-Böckler-Stiftung, dass die steigende Ungleichheit der Gesamtwirtschaft schadet. Die Wissenschaftler haben einen Zusammenhang zwischen Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum festgestellt. Ihre Erkenntnis: Wenn Reiche immer Reicher werden, dann schrumpft auf lange Sicht das Bruttoinlandsprodukt. Steigen dagegen die Einkommen der Gering- und Durchschnittsverdiener, wächst die gesamte Volkswirtschaft. Deshalb empfehlen die Wissenschaftler eine stärkere Umverteilung zugunsten einkommensschwacher Haushalte.

Politikwechsel für eine dynamische Wirtschaft – Was ist zu tun?
Drei wesentliche Handlungsfelder können zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung für die Bevölkerung führen:

1. Einkommen erhöhen und damit Binnennachfrage massiv stärken
In der Tarifpolitik muss weiter versucht werden, Gehaltsteigerungen über den neutralen Verteilungsspielraum hinaus, durchzusetzen. Die Tarifergebnisse sind allerdings als Verhandlungsprozesse abhängig von den jeweiligen Kräfteverhältnissen und insofern nicht planbar.
Der Gesetzgeber kann aber die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften stärken anstatt sie –wie so oft in der Vergangenheit- zu schwächen. So kann die Bundesregierung z.B. ein gesetzliches Verbot betriebsbedingter Kündigungen im Falle der Gewinnerwirtschaftung beschließen. Dies entspricht dem grundgesetzlich geregelten Sozialstaatsgebot des Eigentums (Kündigungen trotz Gewinne sind verfassungswidrig) und verhindert die Defensivposition der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen, die nicht selten tariflich auszuschließende betriebsbedingte Kündigungen durch niedrigere Lohnabschlüsse bezahlen.
Weiterhin muss der gesetzliche Mindestlohn schnellstens auf mindestens 10 Euro pro Stunde angehoben und die Hartz-IV-Leistungen zu existenzsichernden Lohnersatzleistungen ausgebaut werden.
Zusätzlich müssen die Steuern für Gering- und Durchschnittsverdiener gesenkt werden. Der „Länderbericht Deutschland 2015“ der EU-Kommission stellt fest, dass die Steuer- und Abgabenbelastung von Geringverdienern nach wie vor zu den höchsten in der EU zählt.
Der gezielte Abbau der Arbeitslosigkeit wird zusätzlich die Binnennachfrage erhöhen, wenn Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und Personalausgleich realisiert werden. Das schafft Beschäftigung und entgegen landläufiger Meinung sind solche Arbeitszeitverkürzungen aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht schädlich. Bei Wachstum der Wirtschaft und Umsatzwachstum des Unternehmens – das mit einer hier skizzierten alternativen Wirtschaftspolitik ausgelöst würde- können sie sogar zu Gewinnsteigerungen führen.

2. Einnahmen des Staates und der Kommunen durch eine faire Steuerpolitik erhöhen
Eine faire Steuerpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass reiche Bürger*innen und ertragsstarke Unternehmen und Konzerne einen angemessenen Anteil an den notwendigen Ausgaben der Gemeinschaft tragen. Dazu sind Steuererhöhungen für Millionäre und Milliardäre sowie für gewinnstarke Unternehmen erforderlich. Mit dem Steuerkonzept der Gewerkschaft ver.di würden Bund, Länder und Gemeinden insgesamt 81,5 Mrd. Euro mehr einnehmen können. Darin enthalten sind u.a.

+ Steuersenkungen für Geringverdiener
+ Einkommensteuerhöhungen für Reiche
+ Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer
+ Die angemessene Erhöhung der Erbschaftssteuer
+ Die Erhöhung der Körperschaftssteuer
(Unternehmensgewinnsteuer) auf 25%
+ Der Ausbau der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftssteuer
+ Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer
+ Die Verbesserung des Steuervollzug durch Personalaufstockung der
Betriebsprüfer

Mit diesem Konzept würden die Steuersenkungen für Reiche und gewinnstarke Unternehmen seit 2000 zurückgenommen und eine Zurückverteilung von oben nach unten erfolgen. Mit diesen Einnahmen kann ohne Erhöhung der Staatsverschuldung eine Investitionsoffensive durchgeführt werden, die z.B. mehr Kitas, Schulen und Universitäten, mehr und besser bezahlte Erzieher*innen und Lehrer*innen, mehr Krankenhäuser und mehr Beschäftigte in Kliniken und Altenpflegeheimen, den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die dringend notwendigen Reparaturen von Straßen und Brücken ermöglichen. Die gesellschaftlichen Bedarfe sind riesig, der Investitionsstau allein in den Kommunen beträgt inzwischen 118 Mrd. Euro. Bei den notwendigen öffentlichen Investitionen helfen einige wenige Mrd. Euro, wie die Bundesregierung sie in Aussicht gestellt hat, keinesfalls. Da darf nicht gekleckert, da muss geklotzt werden. Für Europa hat der DGB ein massives Investitionsprogramm unter dem Titel „europäischer Marshallplan“ gefordert.

3. Aktive Wirtschaftspolitik flankieren mit der Schaffung einer neuen Finanzmarktarchitektur.

Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2007/2008 war die heftigste Krise seit Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts und hat die Wirtschaft an den Rand des Abgrundes geführt. Das Finanzsystem hat mit dem Platzen von Spekulationsblasen gebebt und damit die Realwirtschaft erschüttert. Das war in dieser Dimension bisher historisch einmalig – und die Krise ist bei weitem noch nicht überwunden. Die vielen Regulierungsmaßnahmen, die in Brüssel und Berlin aufgelegt wurden, werden einen erneuten Crash nicht verhindern können. Dazu sind sie zu zaghaft gemacht und grundsätzlich unzureichend. Was besonders fehlt, sind Maßnahmen zur Unterbindung von massiven Spekulationsgeschäften, die die Wirtschaft an den Abgrund bringen können. Dazu brauchen wir einen Finanz-TÜV, der Finanzprodukte auf ihre Nützlich- bzw. Schädlichkeit für die Ökonomie überprüft und entsprechend schädliche bzw. riskante Finanzmarktprodukte nicht zulässt. Im Kern müssen die Banken auf ihre dienende Funktion für die Realwirtschaft beschränkt werden, d.h. die massiven weltweiten Spekulationsgeschäfte müssen unterbunden werden – eine neue Finanzmarktarchitektur ist erforderlich anstelle von aktuellem Regulierungsaktivismus.

Insgesamt betrachtet hat sich mit der Senkung der Lohnquote, der massiven Investitionsschwäche, des weiteren Aufgehens der Schere von Arbeitseinkommen und Vermögenseinkommen sowie dem hohen „Sockel“ der Arbeitslosigkeit herausgestellt, dass die neoliberale, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik für die breiten Bevölkerungsschichten massive negative Auswirkungen gebracht hat. Das Ausbrechen der Finanzmarktkrise, die die Staatsfinanzierungs- und Eurokrise ausgelöst hat sowie die negativen, teils katastrophalen Zustände aufgrund der Kürzungspolitik in Europa belegen, dass die neoliberale, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gescheitert ist. Das derzeitige vorherrschende Leitbild der Bundeskanzlerin, die schwäbische Hausfrau, die eisern  spart, ist so falsch wie fatal. Nur die Steigerung der Binnennachfrage und massive Investitionen können Beschäftigung und Wohlstand für alle schaffen. Die öffentlichen Investitionen müssen massiv ausgebaut werden. Insofern ist es unverzichtbar, die Einnahmeseite des Staates und der Kommunen zu stärken – für mehr Lebensqualität, mehr Beschäftigung und mehr Wohlstand für alle. Das notwendige Geld dafür ist vorhanden. Es muss nur durch eine faire Steuerpolitik entsprechend aktiviert werden. Diese Regierung ignoriert diesen Zusammenhang. Sie betreibt mit der Politik der schwarzen Null das ganze Gegenteil. Insofern kommt es darauf an, für die kommenden Bundestagswahlen diesen Zusammenhang sehr deutlich als elementares Thema der Zukunftsgestaltung zu verdeutlichen und einen grundlegenden Politikwechsel zu fordern.

06. Dezember 2015   Themen - Soziales

Urteil des Bundessozialgerichtes zu Unionsbürgern

Das BSG stellt mit seinem Urteil klar,

dass die unsäglichen Leistungsausschlüsse von Unionsbürgern im SGB II und SGB XII so nicht haltbar sind und, wenn keine Aufenthaltsgründe im SGB II vorliegen,  spätestens nach sechs Monaten ein Leistungsanspruch nach dem SGB XII besteht.

Weiterlesen: Urteil des Bundessozialgerichtes zu Unionsbürgern

10. November 2015   Themen - Soziales

Wie der Flüchtlingsandrang aus Syrien ausgelöst wurde

08.11.2015, von Thomas Gutschker

Ursachen der Migration: Wie der Hunger die Syrer in die Flucht trieb

Im Sommer bekamen syrische Flüchtlinge auf ihren Lebensmittelkarten plötzlich weniger Geld. Das war ein Auslöser für den großen Treck nach Europa. Wie konnte es so weit kommen?

Vor einem Jahr sandte das Nahrungsmittelprogramm der Vereinten Nationen einen Notruf in die Welt. Es sei gezwungen, die Lebensmittelhilfe für 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern einzustellen, hieß es in der Mitteilung Anfang Dezember. Die Direktorin des Programms ließ sich mit deutlichen Worten zitieren: Für die Betroffenen sei das ein „Desaster“ mit „schrecklichen Auswirkungen“. Die Einstellung der Nahrungsmittelhilfe „wird die Gesundheit und Sicherheit dieser Flüchtlinge gefährden und kann weitere Spannungen, Instabilität und Unsicherheit in den Aufnahmeländern verursachen“.

Heute ist klar, dass die Folgen noch viel weiter reichen, bis mitten nach Europa. Antonio Guterres, der Hochkommissar für Flüchtlinge, sagte diese Woche, dass die Kürzungen der „Auslöser“ der Flüchtlingswelle in diesem Sommer gewesen seien. Außenminister Steinmeier spricht inzwischen von einem „humanitären Skandal“. Man dürfe sich nicht wundern, „wenn sich weitere Menschen aus den Flüchtlingslagern auf den Weg nach Europa machen“.

Wenn Appelle ins Leere laufen

Das stimmt. Aber wundern darf man sich schon, warum dieser Skandal erst so spät bemerkt wurde. Natürlich ist man hinterher immer schlauer. Doch war es ein so fernliegender Gedanke, dass Menschen lieber ihr Leben in Schlauchbooten auf dem Mittelmeer riskieren als zu verhungern? Was ist da eigentlich schief gelaufen – und sind wir wirklich davor gefeit, dass sich ein solcher Skandal wiederholt? Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort lautet nein.

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Die Vereinten Nationen setzen ständig Hilferufe ab. Das gehört zum Geschäft. In jeder Krise veröffentlichen sie einen Spendenaufruf mit einer Zielsumme. Es finden dann Konferenzen statt, kleinere und größere, um die Beträge einzusammeln. Das Geld kommt in der Regel aus Nothilfe-Etats der Mitgliedstaaten, und da ständig irgendwo Not herrscht, gibt es einen Wettbewerb darum: Je dramatischer eine Krise ist oder geschildert werden kann, desto eher öffnen die Staaten ihr Portemonnaie. Bei Naturkatastrophen funktioniert das recht gut. Schwieriger wird es, wenn eine Notsituation lange anhält. Irgendwann verbraucht sich die Krisenrhetorik, Appelle laufen ins Leere. Syrien ist dafür ein Musterfall.

Der gewaltsame Konflikt begann Anfang 2011, Ende jenes Jahres flüchteten die ersten Menschen vor den Bomben des Assad-Regimes. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und das Nahrungsmittelprogramm WFP (für World Food Programme) übernahmen die Versorgung, in Syrien und außerhalb. Die Finanzierung war rasch sichergestellt, jeder sah die Not, jeden Tag gab es schreckliche Bilder, Amerikaner und Europäer erwogen sogar militärische Optionen. Doch mit der Zeit drängten andere Krisen in den Vordergrund: die Intervention in Libyen, der Konflikt in der Ukraine, die Ebola-Epidemie. Derweil wurde die Krise in Syrien immer schlimmer. Und so trat ein, was UN-Leute „donor fatigue“ nennen: Spendermüdigkeit.

Kurzer Erfolg, hoher Preis

Für das World Food Programme gilt das noch mehr als für andere UN-Organisationen. Es bekommt keine Grundfinanzierung aus UN-Mitgliedsbeiträgen, sondern lebt von freiwilligen Zahlungen. Im Fall Syrien führte die Spendermüdigkeit der Europäer dazu, dass der Druck auf die Golfstaaten stieg, sich stärker zu engagieren. Dafür gab es gute Gründe: Sie unterstützten die Rebellen, zum Teil mit Waffen, übernahmen aber kaum Verantwortung für die Folgen des Bürgerkriegs. Kuweit richtete Anfang 2014 eine Geberkonferenz für Syrien aus; das Emirat sagte eine halbe Milliarde Dollar für humanitäre Zwecke zu. Saudi-Arabien und Qatar stellten je 60 Millionen Dollar in Aussicht.

Doch traf das Geld nicht ein. Ende 2014 standen allein von der kuweitischen Summe noch 200 Millionen Dollar aus. Das World Food Programme hatte damit gerechnet – als das Geld nicht kam, stoppte es die Lebensmittelhilfe und warnte vor den Folgen. Die UN-Organisation startete eine Kampagne in den sozialen Medien, verbunden mit einem Musikvideo zu dem Lied „I Need A Dollar“. Etwa so viel hatte es einem syrischen Flüchtling bis dahin pro Tag gezahlt. Zunächst sah es gut aus: Nach ein paar Tagen war mehr Geld zusammen, als für den Dezember benötigt wurde. Die Saudis überwiesen die größte Summe, 52 Millionen Dollar.

Der kurzfristige Erfolg hatte jedoch einen hohen Preis. Die Geberstaaten drangen darauf, die Mittel für das folgende Jahr realistischer einzuplanen. Das World Food Programme kürzte daraufhin zum Januar seine Zuwendungen um ein Drittel. Konkret hieß das: Vorher hatte eine Flüchtlingsfamilie pro Mitglied 28 Dollar im Monat bekommen, nun waren es nur noch 21 Dollar. Nur für die Menschen in den Flüchtlingslagern änderte sich nichts. Aber das sind nur 400.000.

Das Geld wird nicht bar ausgezahlt, sondern auf eine elektronische Karte gebucht, mit der Leute in normalen Läden einkaufen können. Sie dürfen damit Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel kaufen, nicht jedoch Alkohol. Der Betrag ist so kalkuliert, dass er für den täglichen Mindestbedarf an Kalorien reicht. So geht moderne Entwicklungshilfe: Die Betroffenen setzen selbst Prioritäten, und das Geld kommt der örtlichen Wirtschaft zugute.

Der letzte Anstoß

Aber nun geriet die schöne Idee ins Rutschen. Im April und Mai gab es weitere Kürzungen; ein Teil der Flüchtlinge bekam nur noch die Hälfte des vorgesehenen Betrags. Das World Food Programme gab weniger Karten aus. Und es bildete neue Kategorien: Leute, die ohne Hilfe verhungern würden, und solche, die „nur“ leiden.

Im Juli stand auch diese Restversorgung auf der Kippe. In letzter Sekunde sprangen die Amerikaner mit Geld ein. Es folgte, wie zu Jahresbeginn, die nächste Kürzungswelle. Die Bedürftigsten bekamen nur noch 14 Dollar, die anderen lediglich 7 Dollar. In Jordanien wurde 230.000 Menschen die Hilfe ganz gestrichen. Betroffene wurden vorher per SMS gewarnt. Für etliche wirkte es wie das letzte Signal zum Aufbruch – in zwei Richtungen.

Arme Familien gingen zurück nach Syrien, zurück in den Bürgerkrieg. Sie hatten kein Geld für Schlepper, den UN-Leuten sagten sie: Lieber schnell in der Heimat sterben als langsam in Jordanien verhungern. Von 430.000 Flüchtlingen, die das Lager Zaatari durchlaufen haben, sind 120.000 nach Syrien zurückgekehrt. Wer noch genügend Ersparnisse zusammenkratzen konnte, um Schlepper zu bezahlen, versuchte dagegen sein Glück auf dem Weg nach Europa.

Oft schickten die Familien ihre Kinder und die jungen Männer – jene, die noch kräftig genug waren, um die Strapazen zu überstehen. Neue Flüchtlinge aus Syrien erkannten schnell, wie aussichtslos die Lage in den Nachbarstaaten war. Sie zogen gleich weiter über die Westbalkanroute. Genaue Zahlen kennt niemand, die Flüchtlinge meldeten sich nicht ab – und in Europa gibt es bisher keine repräsentative Erhebung über Fluchtwege und -motive. Klar ist jedoch: In den Sommermonaten, zwischen Juli und September, startete eine Wanderung von Syrern nach Europa, wie es sie noch nie gegeben hatte. Die Lebensmittelkürzungen waren nicht der einzige Grund dafür, aber für viele der letzte Anstoß.

Dann war es zu spät

Ende September saßen die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten wegen der Flüchtlingswelle in Brüssel zusammen. Vor ihnen lag eine Liste mit den Zuwendungen an das World Food Programme. Die niederschmetternde Erkenntnis: Obwohl das Jahr zu drei Vierteln vorbei war, hatten die Staaten und die EU-Kommission nur die Hälfte des Betrags von 2014 überwiesen. Das galt auch für Deutschland. Einige Staaten hatten die volle Summe gezahlt, etwa die Niederlande, andere wie Österreich und Ungarn nicht einen Cent. Hatten sie nicht bemerkt, was die Kürzungen anrichteten?

Ja und nein. Viele Länder halten es so wie Deutschland: Sie begünstigen ihre nationalen Hilfswerke, bevor die Vereinten Nationen dran sind. Deshalb fließt der größte Teil des Etats in der zweiten Jahreshälfte. An dieser Routine wurde nichts geändert, obwohl den zuständigen Fachbeamten die Schieflage des Nahrungsmittelprogramms bewusst war. Sie begriffen auch als Erste, dass die Flüchtlingswelle mit den Kürzungen zusammenhing. Bis diese Erkenntnis aber die Leitungsebene erreichte – wo über die großen Zuwendungen entschieden wird – war es schon zu spät.

Die Europäer haben Ende September beschlossen, den Vereinten Nationen zusätzlich eine Milliarde Euro zu geben. Ein Teil dieses Geldes ist inzwischen geflossen, auch an das World Food Programme. Es hat seine Zahlungen an syrische Flüchtlinge wieder erhöht – aber noch nicht auf den ursprünglichen Betrag. Die UN-Organisation ist vorsichtig. Bis Januar werde das Geld wohl reichen, heißt es, danach gehe die Bettelei von vorne los. Dass die Erfahrung dieses Jahres ein heilsamer Schock sein könnte, glaubt kaum jemand.

Das Grundproblem besteht fort: Eine Dauerkrise wie Syrien lässt sich nicht mit kurzfristigen Nothilfen bewältigen. Flüchtlingskommissar Guterres sagte diese Woche vor UN-Delegierten: „Es ist dringend erforderlich, dass wir die Art und Weise überdenken, wie wir heute unsere humanitäre Antwort finanzieren.“
Quelle: F.A.S.


20. November 2015   Themen - Soziales

Leiharbeits- und Werkverträge

Leiharbeits- und Werkvertragsbeschäftigte haben das Nachsehen

Beitrag: Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag
 

Großspurig kündigte Bundesarbeitsministerin Nahles zu Beginn der Großen Koalition an, den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen einzudämmen und rasch ein Gesetz dazu vorzulegen. Das Arbeitgeberlager intervenierte reflexartig, mit dem Erfolg, dass die Ministerin auf die Bremse trat. Ganze zwei Jahre hörte man dazu nichts mehr von ihr, stattdessen schränkte Nahles unser Streikrecht durch das Tarifeinheitsgesetz ein. Jetzt liegt der Referentenentwurf vor und bleibt deutlich hinter den Erwartungen der Gewerkschaften und der betrieblichen Interessenvertretungen nach den einstigen Ankündigungen der Ministerin zurück.

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29. September 2015   Themen - Soziales

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hartz IV der Partei DIE LINKE fordert: Schluss mit den rechtswidrigen Sanktionen

Für eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.050 Euro

Erklärung der BAG HARTZ IV

Am 1. Oktober wird der Bundestag über die Empfehlungen des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu drei Anträgen der Oppositionsparteien abstimmen.

     Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen (Antrag DIE LINKE – Drucksache 18/1115)
    Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV (Antrag DIE LINKE – Drucksache 18/3549)
    Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt (Antrag Bündnis 90/Die Grünen – Drucksache 18/1963)

Die Beschlussempfehlung des von CDU/CSU und SPD dominierten Ausschusses zu den Anträgen lautet natürlich in allen Fällen, diese abzulehnen. Gerade einmal 45 Minuten sind zur Debatte für alle 3 Anträge vorgesehen. So ist sichergestellt, dass die breite Öffentlichkeit kaum etwas darüber erfährt, dass Millionen Menschen in Deutschland unter dem rigiden Unrechtssystem Hartz IV, insbesondere unter dem Repressionsinstrument der Sanktionen leiden und von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind. Seit dem Mindestlohnflickenteppich gelten die von Hartz IV Betroffenen sogar ganz offiziell als Menschen 2. Klasse, da der Mindestlohn nach diesem Gesetz für jede und jeden gilt, Langzeiterwerbslose hiervon jedoch ausgeschlossen sind.

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